Meisterschüler Grosz lacht über den Tod
„Ein wundersam herrliches Buch“, schrieb Ernst Osterkamp (in dessen Rezension man überdies die wichtigsten Eckdaten zu dem nie besonders erfolgreichen Ulrich Becher und seinem Lebensweg skizziert findet) 2009, anlässlich der Neuauflage des Romans Murmeljagd durch den Schöffling Verlag in der FAZ, „eine Herausforderung auch“. An dieser Herausforderung, so fürchte ich gestehen zu müssen, bin ich gescheitert.
Wenn Treblas Frau Xane am Ende des Romans sagt: „Und dann, hier oben ¨C seit vier Wochen hatten wir einander nichts zu sagen. Fast nichts. Nicht wahr?“ Dann ist das ein wenig, als spräche sie für mich als Leserin, die gestehen muss, den Faden, oder jedenfalls den Enthusiasmus beim Lesen, seit einigen hundert Seiten verloren zu haben. Verloren an eine bewundernswerte sprachliche Verschwendungslust. Sollte das jetzt paradox klingen, trifft es den Kern meines Verhältnisses zu diesem Buch, meines Lesens, das sich zwischen der Erkenntnis hier ein Stück sehr gute Literatur, eine so noch nie gelesene Sprache und einen Ansatz zur Behandlung eines Themas (nämlich des Krieges allgemein und des zweiten Weltkrieges insbesondere) vor mir zu haben, und einer Überforderung durch einen Autor, der wahrlich kein Meister der Verdichtung ist, es auch nicht sein will.
Das intertextuelle Spiel mit den alten Griechen, Werther, Faust, Michael Kohlhaas u.a. ist wunderbar originell und gekonnt, der Wechsel zwischen Protokollstil und Kleist’schen Endlossätzen entbehrt nicht einer inhaltlichen Grundlage, die Demontage eines Kriminalromans durch einen Roman der schlicht und einfach in einer kriminellen Epoche spielt, „Meine Idee war, den Antikriminalroman zu schreiben, der in einer kriminellen Epoche spielt.“ sagte Becher selbst von diesem Buch, auch das kein Anspruch, den Becher nicht erfüllen kann. Und doch stellt dieses Buch immer wieder, immerhin 700 Seiten lang eine beständige Herausforderung an die Konzentration dar, an den Willen des Lesers, sich herausfordern zu lassen.
Murmeljagd, ursprünglich 1969 erschienen, gehörte zu den erfolgreichsten Werken Bechers (neben der Anti-Nazi-Posse „Der Boxerer“, die in Österreich einen gewissen Kultstatus genießt, auch wenn längst nicht jeder weiß, wer das Stück eigentlich geschrieben hat.)
Der Eingangssatz: „Wissen Sie, Gnädige Frau, es hat wirklich gar keinen Sinn, sentimental zu sein“, dient als Motto der Erzählhaltung des Romans und rahmt die gesamte Geschichte über Krieg, Verfolgung, Jagd und Wahn ein. Anfangs spricht Trebla, der vor den Nazis fliehende Wiener Journalist, ihn zu seiner Frau Xane, die aus Kummer über den Tod seines besten Freundes im KZ ins Wasser gehen will. Am Ende des Romans zitiert Xane wiederum ihren eigenen Mann und dessen Zitat, um fortzufahren, dass sie längst vom Tod ihres eigenen Vaters weiß (den Trebla hunderte von Seiten lang nicht fertig bringt, ihr schonend beizubringen). „Aber ich werde mich nicht vergiften lassen.“ fährt sie fort. „Nicht vergiften lassen von Trauer.“ Und auch das scheint ein Prinzip des Erzählens von Becher zu sein.
Was zwischen diesen rahmenden Sätzen geschieht, lässt sich kaum hinreichend zusammenfassen. Auf jeden Fall liegt mit diesem Buch eine Auseinandersetzung und Beschreibung der Nazi-Zeit, von Krieg, Verbrechen und Verfolgung, oder wie Becher es nennen würde: „einer kriminellen Epoche“ vor, die ich so noch niemals gelesen habe. Ganz anders als eines der ersten großen Werke, die sich mit dem Schrecken des Hitlerregimes auseinander gesetzt hat, nämlich des äußerst verdichteten großartigen Romans Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“, auch ganz anders, als der nachdenklich monologische Ansatz von Sebald in Austerlitz, fährt Becher ein Feuerwerk an Ideen gegen die stumpf bürokratische Grausamkeit des Keinhäusslers (eine österreichische Bezeichnung für Kleinbauern und der Titel mit dem Becher bzw. Trebla den gesamten Roman hindurch Hitler tituliert) Hitler auf.
1938. Der Wiener Journalist Trebla, als Sozialist bereits des Öfteren inhaftiert, flieht mit seiner Frau Xane ins Oberengadin, in den Kurort Sils Maria. Aber auch dort fühlt er sich verfolgt, seltsame Briefe treffen ein, die ihn zum Nationalsozialismus bekehren und heim ins Reich holen wollen. Zwei „Blonde“ kreuzen immer wieder seinen Weg, von denen er annimmt, sie sind angeheuerte Schergen, die ihn beseitigen sollen. Hinter dem Auftrag vermutet Trebla einen ehemaligen Fliegerkollegen aus dem ersten Weltkrieg, in dem sich der flüchtige Journalist eine Kopfverletzung zugezogen hat. Auf den folgenden Seiten wird Alfred Trebla nicht nur zum Augenzeugen einer ganzen Serie von Selbstmorden, sondern entdeckt darüber hinaus nach und nach die Familiendramen und dunklen Flecken der Dorfgeschichte des Kurortes. Sein Verfolgungswahn erhält ständig neue Nahrung, ob gerechtfertigt, oder nicht, bleibt lange offen.
Vieles in diesem Roman ist autobiografisch, Becher selbst war bereits mit 22 Jahren und nur einem Erzählband („Männer machen Fehler“) ein „entarteter Autor“, der über die Schweiz vor den Nazis fliehen musste. Der große Giaxa, dessen Flucht aus dem KZ Dachau, ein Paradestück von Würde und Haltung, fraglos zu den ganz starken Stellen des Romans gehört, ist Bechers Schwiegervater Alexander Roda Roda nachempfunden, dem im wirklichen Leben, in letzter Minute die Flucht nach Amerika gelang.
So begleitet der Leser Trebla auf seiner Geisterbahnfahrt, immer wieder flankiert vom wachsenden Heer der Toten, bis dieser auf der Straße nach San Gian zurück nach Xane an einem möglicherweise nicht ganz unsentimentalen Schluss ankommt.
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