Blut, Zeit, Strom.
Nichts macht Erzähltes eindringlicher, als wenn es Witterung, Geruch und Geschmack in einem wachruft, sodass die Sinne eher am fernen Ort anlangen, als Geografie und Geschichte einen dort hintragen können.
Mit dem „Buch des Flüsterns” ist Varujan Vosganian ein solcher fliegender Teppich gelungen, der das Verlangen nach frisch geröstetem, von vielen Händen gemahlenem Kaffee weckt und Appetit auf Baklava mit Nüssen oder Griesküchlein in Honig macht. – Dabei erzählt Vosganian vom Hungern, von der Vertreibung und Ausrottung der Armenier im Osmanischen Reich, aber auch von ihrer Erinnerung an solche Leckerbissen. Die in Rumänien heimisch gewordenen Überlebenden, von denen der Autor herstammt, haben sie mit den Vorstellungen von Paradies und Hölle verbunden, die ihnen die Gegenden waren, aus denen man sie verjagt hat. Und so vereindringlichen starke Aromen die Geschichten der vielen Beteiligten, die das „Buch des Flüsterns” bilden.
Doch über ein Erinnerungsbuch geht Vosganians Armenier-Roman weit hinaus. Was der Autor mit den Erzählungen naher und fremder Verwandter, ja Unbekannter anstellt, die den Genozid von 1915 erlebt haben, ist eine eindringliche Durchgestaltung der Geschichte der Armenier, vor allem derer in Rumänien, denen er als Sprecher heute vorsteht.
Vosganian schreibt sich geradezu aus dem Textwerk all seiner Gewährsleute her, wirkt ein Erzählgespinst, einen Teppich aus der Geschichte seiner Vorfahren – je mehr sie versprengt wurden, umso dichter webt er die Fäden:
„Im Buch des Flüsterns gibt es keine imaginären Personen, schließlich haben alle in dieser Welt gelebt, an ihrem Ort und mit ihrem eigenen Namen. Es gibt eine einzige Person, die als imaginär betrachtet werden könnte, denn ihre Existenz verwandelt Buch des Flüsterns in eine Realität, deren Treppenstufen sich wie zwei Spiegel, die sich gegenseitig spiegeln, selbständig vervielfältigen. Ich schreibe häufig über den Erzähler dieses Buches. In meiner Geschichte erzählt der Erzähler über das Buch des Flüsterns. Und in diesem neuerlich erzählten Buch tritt wiederum der Erzähler mit seinen Geschichten auf. Er erzählt vom Erzähler und von dessen Geschichte.”
Heiliger Gregor von Narek, Quelle: Wikipedia
Das Flüstern, so hat der Autor gelernt, sei das wahre Sprechen. Liebende und Betende flüstern, wenn sie einander oder Gott am nächsten sind. Das „Buch des Flüsterns” erinnert aber auch an den armenischen Psalter „Buch der Klagen” von Gregor von Narek und daran, dass die sämtlich darin festgehaltenen und zusammengebundenen Einzelschicksale über die längste Zeit im Stillen weitergegeben wurden. Wer dem Völkermord entgehen wollte, durfte sich nicht als Armenier verraten – wie eine der Buchpersonen, Sahag: Als Kind während des Todesmarsches durch die syrische Wüste von der eigenen Mutter gegen einen halben Sack Mehl verkauft, haben Beduinen ihn beschnitten und Yusuf genannt. Fortan kämpfen zwei Seelen in dem Mann, der getötete Armenier und der lebende Araber.
Selten kommen einem erzählerische Texte so nah. Das liegt an der Leidenschaft, mit der hier Erlittenes gewürdigt, Verlorenes erweckt und Vergangenes miterlebt wird. Vosganian, wie er SWR 2 in einem Interview erzählt, ist durch die Erzählungen seiner Tanten und Großmütter, die er als Kind unter dem Kaffeetisch belauscht hat, die schreckliche Geschichte des armenischen Volkes hinterbracht worden.
Meine Großväter Garabet Vosganian und Setrak Melichian haben mir nichts von alledem erzählt. Großvater Garabet hat meine Freude am Schreiben geweckt, er hoffte, ich würde eines Tages der Erzähler sein, aber er hielt mich nie dazu an und entwirrte mir auch den Faden der Geschichte nicht. Es wäre zu einfach gewesen, dachte ich. Es wäre ein Fehler, dachten meine Großväter. Und Setrak Melichian, mein Großvater mütterlicherseits, gestand mir eines Abends [...], als ich schon ein erwachsener Mann war: Wer gelitten hat, kann die Geschichte nicht so erzählen, wie sie sich zugetragen hat, sondern nur die eigene Geschichte. [...]
Durch den Erzähler verwandeln sich all diese tragischen Geschichten in einen epischen Teppich – wie er für jedwede/n „Nansenianer”, d.h. staatenlosen Nansenpass-Inhaber, Heimat sein könnte.
Und wenn Vosganians Geschichte der Armenier auch nicht in männlicher Linie weitergegeben wurde, so reicht der Autor sie dennoch mit archaisch-patriarchaler Geste weiter. (Nur einmal erhält eine Frau, Virginica, nach über 500 Seiten kurz das Wort.)
Wie Arabesken tauchen aus der Vielzahl der Protagonisten auf diesem Gespinst aus Fluchtrouten und Erinnerungen Namen und Situationen nach vielen Seiten in anderen Verschlingungen wieder auf und fließen als Déjà-vus neuerlich in die Erzählung. So pocht im geschilderten Leidensweg des Verjagt- und Erschlagenwerdens ständig das Leben.
Eine der Leitfarben ist Rot – Blutrot, Granatapfelrot. Der Erzähler nennt seinen Großvater Setrak einen Blut-Philosophen, denn dieser sinniert:
„Blut ist widersetzlicher als das Fleisch. Siegreich sein, bedeutet nicht, die Macht zu haben, das Blut anderer zu vergießen – das ist eher Gleichgültigkeit oder Hass –, sondern die Kraft, dein eigenes Blut zu vergießen. – Und [...] setzte sich mit im Schoß ineinandergelegten Händen nieder, damit das Blut einen Kreis durchlaufen konnte und zur Ruhe kam.
Ein anderes immer wieder beschworenes Bild ist der Strom des jahrhundertealten Volks der Armenier. Darin trifft die Rede des zweiten Großvaters die des ersten:
Eben deshalb meinte Großvater Garabet, dass diejenigen, die wirklich Geschichte schreiben, nicht die Generäle, sondern die Dichter sind, und dass man die wirklichen Schlachten nicht unter den Hufen der Pferde suchen muss.”
Das „Buch des Flüsterns” ist 2009 auf Rumänisch erschienen und bald in viele Sprachen übersetzt worden. Auf Deutsch liegt es erst seit 2013 vor, im Wiener Zsolnay-Verlag, der in den letzten Jahren einige Lücken in der literarischen Landkarte unserer östlichen Nachbarn geschlossen hat. Diese einfühlsame Version verdanken wir dem rumäniendeutschen Dichter Ernest Wichner, der Vosganians orientalisch anmutende Saga behutsam und mit aller Leuchtkraft nachgeschaffen hat. Als Beispiel gebe ich eine der Erinnerungen des Erzählers wieder, der nordöstlich von Bukarest im Dorf Fosçani aufgewachsen ist:
Wenn es regnete und ich den Hof überqueren musste, zog ich die alten Schuhe an. Sie hinterließen tiefe Spuren im Morast, ungewöhnlich tiefe Spuren für ein Kind. Meine Spuren waren mir fremd. Ich fürchtete mich vor ihnen. Wasser quoll hinein wie die Hufabdrücke der Pferde. Wenn der Boden wieder trocknete, blieben sie erhalten, streng und tief wie die schweren Schritte eines Soldaten. Als lastete mir etwas auf den Schultern, das bei meinem Gang gierig in den Boden biss. Deshalb erkannte ich sie auch nicht wieder. Die im Morast zurückgebliebenen oder im trockenen Boden bewahrten Spuren waren nicht meine. Ich hatte noch kein Recht auf eigene Spuren, denn vor meiner Geburt waren zu viele schmerzhafte Dinge geschehen. [...]
Tatsächlich ist Geschichte der Armenier im letzten Jahrhundert vor allen eine Geschichte des Völkermords: Im Osmanischen Reich seit 1894/95 in Pogromen verfolgt, forderten das Trapezunt-Massaker und das von Baku unter Bahbud Khan Djivansir zehntausende Opfer unter ihnen. 1915, im Krieg mit Russland, verlangten die fortschrittlichen Jungtürken in der osmanischen Regierung die Ausrottung der Armenier, Innenminister Talaat Pascha ordnete sie am 24. April 1915 an. In den folgenden Monaten wurde eine Million Menschen ermordet. Weder die Berichte internationaler Organisationen noch Eingaben des deutschen Botschafters in Istanbul nach Berlin, dem Verbündeten, bewirkten offizielle Proteste. Angeblich berief sich Hitler bei Planung des Holocaust darauf, dass auch die Ausrottung der Armenier ungehindert erfolgen konnte und bald wieder vergessen wurde.
Nicht so in der Literatur: Einen Zeugen der Grausamkeiten am Bosporus lässt 1998 Les Murray seinen Titelhelden „Fredy Neptune” werden, einen australischen Seemann, der von dem Schock - er hat einen Mob bei lebendem Leib brennende Armenierinnen durch die Stadt hetzen sehen – die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, verliert.
Und in seiner Selbstbiografie „Die gerettete Zunge“ hat einige Jahrzehnte davor Elias Canetti im Kapitel „Das Beil des Armeniers“ erzählt, wie er als Kind in Rustschuk/Bulgarien in einem Wutanfall seine Cousine Laurica, weil sie besser lesen konnte, mit einem Beil erschlagen wollte „wie die Türken die Armenier”.
Der österreichische Romancier Franz Werfel, mit seiner Frau Alma auf Orientreise, hatte Gastfreunde nach den vielen Straßenkindern in Damaskus gefragt, worauf er die Geschichte vom Untergang der Armenier erfuhr. Bei seinen Recherchen im Libanon stieß er auf einen Bericht von Der Kalousdian, den Organisator der Rettung mehrerer tausend Menschen, die auf einem Berg überlebt hatten: Mit dem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh”, im Jahr von Hitlers Machtergreifung erschienen, wollte Werfel, der vorausahnte, dass die Nationalsozialisten ihre antisemitsche Propaganda eines Tages ebenso umsetzen würden, auf das drohende Schicksal der europäischen Juden hinweisen. Sein psychologisch-realistischer Roman galt lange Zeit als die Geschichte des Genozids durch die Türken und wird auch in sämtlichen Besprechungen des „Buchs des Flüsterns” als einziger Niederschlag der Ereignisse in der deutschsprachigen Literatur erwähnt. Dabei sollte man auf keinen Fall die ausgezeichnete Bearbeitung des Stoffs durch Edgar Hilsenrath vergessen, wie Werfel ein Opfer des Nationalsozialismus, der in „Das Märchen vom letzten Gedanken” mit einer ganz anderen Erzähltechnik ein außergewöhnliches Epos vom Leidensweg der anatolischen Armenier geschaffen hat.
Nach dem Krieg von 1922 war der größte Teil der Griechen, Italiener und die Armenier, die nach den Massakern von 1915 noch übrig geblieben waren, aus Konstantinopel vertrieben worden.
1946 beginnt – über Batumi – die Repatriierung von Armeniern in die armenische Sowjetrepublik. Von den armenischen Rumänen, die den Aufrufen folgen, lässt Vosganian etliche Zeugen erzählen – besser gesagt, ihre Briefe reden, die sie sehr spät und in bizarren Verschlüsselungen, wegen der Zensur, heim nach Rumänien schreiben. 1949 hat man sie unter dem Generalverdacht, mit Hitler sympathisiert zu haben, nach Sibirien deportiert.
Dann geht es in den Geschichten im „Buch des Flüsterns“ um die Leiden der Verstaatlichung und Zwangskollektivierung in Rumänien. Erst leiden reiche Kaufleute und Fabrikanten unter den Armeniern, später auch die Bauern. 1958 wird endlich der Autor geboren.
Die alten Leute meiner Kindheit erzählten sich untereinander von diesen Ereignissen. Die Begegnungen, an denen Frauen und Kinder nicht teilnahmen, fanden nachmittags beim Kaffeetrinken statt. Es muss überall gleich gewesen sein, in Bukarest [...] oder in den Häusern mit langer Veranda in der Moldau. Gemächliche Gespräche [...] die Holzbänke und die mit Kissen gepolsterten Sessel kreisförmig im Schatten des Aprikosenbaumes angeordnet. Doch wenn der Gast aus einer anderen Stadt gekommen war, fand das Treffen im Hof der armenischen Kirche statt. Gerade deshalb hatten die armenischen Kirchen überall geräumige Höfe und Laubbäume, die – diese Anlagen waren allerorten mindestens zwei-, dreihundert Jahre alt – ausreichend Schatten spendeten und gastfreundlich wirkten. Jeder erzählte seine Geschichte oder die Geschichte anderer, denn man empfand auch Verantwortlichkeit vor denen, die nicht mehr lebten.
In diesem Sinn sei die Aufgabe des „Buchs des Flüsterns”, wie der Autor an anderer Stelle klarstellt:
Diese Geschichte, die wir das Buch des Flüsterns nennen, ist nicht meine Geschichte. Sie begann lange vor meiner Kindheit, als man im Flüsterton sprach. Ja, sie begann sogar lange bevor sie ein Buch wurde. Uns sie begann auch nicht im <Ort> meiner Kindheit, sondern in Siwas, in Diarbekir, in Bitlis, in Adana und in der Region Kilikien, in Wan, in Trapezunt, in allen Wilajeten des östlichen Anatolien, wo die Menschen meiner Kindheit geboren wurden, die zu den Helden dieses Buches zählen. Ja, sie begann sogar noch sehr viel früher, und zwar mit den Legenden und Schrecknissen, welche die Greise meiner Kindheit in ihrer eigenen Kindheit gehört und nachempfunden hatten.
Noch ein Leitmotiv gibt es im „Buch des Flüsterns”: Neben Farbe und Fluss des Bluts ist es der Handel – mit Zeit, der die Armenier durch die Welt wandern lässt – wo sie mancherorts, und nicht weniger freiwillig, die Juden ablösen. Vosganian – und sein Übersetzer Wichner – bringen die Geschichte dieser bewegten Stämme in einem kraftvollen Erzählfluss vor:
„Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen, durch gastfreundliche Gesetze begünstigt, von Osten her auch die jüdischen Kaufleute und ließen sich an der Hauptstraße nieder. Sie begannen eine völlig ungewöhnliche Ware zu verkaufen, die bis dahin noch niemand auf seinen Verkaufstisch gelegt hatte: Die Zeit. Die Zeithändler hatten keine Regale, ihre Schaufenster, zur Hälfte von Rollläden bedeckt, wirkten nicht einladend, die Räume waren düster und die Tische schmal. [...] Jene Kaufleute hatten forschende Augen, die einen durchbohrten. Sie saßen gekrümmt, die Schultern über die sich fortwährend wie Walzen reibenden Hände gebeugt. [...] Wer Zeit kaufen gekommen war, erfuhr den Preis erst später. Wenn er verbrauchte, was er gekauft hatte, nämlich den Aufschub, verwandelte sich die scheinbare Ruhe in Unruhe, die Sorglosigkeit in Besorgnis. [...] Die Zeit erwies sich stets als teurere Ware, als sie beim ersten Blick zu sein schien. [...] Je mehr Zeit man benötigte, umso höher waren die Zinsen. Eine Welt ohne Blut ist eine Welt ohne Zeit. Die Kunden hatten bleiche Wangen, und ihr Blut war verdünnt wegen der zu geringen Zeit, die ihnen zur Verfügung stand. Die Kaufleute schätzten sie mit den Blicken ab. Dann zogen sie verstohlen und mit im Dunkeln leuchtenden Augen die polierten Münzen hervor. Der Mann nahm die Handvoll Münzen und gewann etwas Zeit, aber was er zurückzahlen musste, war stets mehr, zu viel für ihn. Deshalb wurden die Zeithändler angefeindet. Die Pfarrer verdammten die Wucherer. Am Tage wechselten die Leute die Straßenseite. Gegen Abend jedoch klopften die Schuldner und Bankrotteure, die Kartenspieler, gefallenen Frauen und verarmten Kaufleute wieder an ihrer Türen und schlichen nach einem verängstigten Blick über die Straße hinein. Weil dieses Geschäft nicht mehr lange fortgesetzt werden konnte, ohne dass die Anfeindungen für sie gefährlich geworden wären, verzichteten die Juden nach und nach darauf. Sie sattelten um auf Kolonialwaren, wurden Schenkenwirte, manch einer auch Handwerker. [...]
Selten kommt man in den Genuss eines derartig mitreißenden, wahrhaftigen Erzählwerks. Umso verwirrender, wenn man sich vor Augen hält, dass der umstrittene (Ex-)Finanzminister Rumäniens es verfasst hat, als er täglich im Rampenlicht der Politik stand und – nicht als Mathematiker und Ökonom, als Armenier und Autor – schrieb:
„Wie lächerlich, auf der Stelle tretend und unwahr wäre es, stellte man sich die Zeit nur durch den Augenblick vor, den man erlebt.“
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