Meine Innereien sind mein Leck
„Ihr seid so was von lost!“ denkt Luis, wenn er im fünfzehnten Stock auf dem Balkon steht und seine Siedlung überblickt. Jahre lang hat er sich dazu gezwungen, jeden Tag ein bisschen länger am Geländer zu stehen. Seine Höhenangst hat Luis längst überwunden; heute ist er der König der Stadt. Ängste besiegen, sich abhärten, Durchblick gewinnen – das ist das Motto des Sechzehnjährigen, dem Verena Güntner in ihrem Debütroman „Es bringen“ eine rotzige, in ihrem pubertären Größenwahn schon fast wieder anrührende Stimme verleiht. Vielleicht ist es dem Schauspielhintergrund der 1978 geborenen Autorin zu verdanken, dass ihr der halbstarke Angeber samt seinem gut verborgenen Innenleben derart gut gelingt.
Mit seiner gerade mal 32-jährigen Mutter teilt Luis nicht nur die Hochhauswohnung, sondern auch den übermäßigen Alkoholkonsum und sogar die Zahnbürste. Luis vergöttert seine Ma – das andeutungsweise inzestuöse Verhältnis zur Mutter wird jedoch ebenso wenig problematisiert wie deren Hang zu gewalttätigen Männern. Eine triste Sozialstudie oder ein psychologisch aufgeladenes Familiendrama hatte Güntner ganz offensichtlich nicht im Sinn. Luis ist ein „Bringer“, der nach vorne blickt, Tränen unterdrückt und Schmerzen nach Möglichkeit ignoriert. Meist gelingt das auch ganz gut. Alle Mädchen fliegen auf seine Zahnlücke; in der Hierarchie seiner Peer Group steht er nur knapp unterhalb des vier Jahre älteren Cliquenchefs Milan.
„Ich bin der Trainer, und ich bin die Mannschaft“ – diesen Satz will Luis sich auf den Rücken tätowieren lassen, sobald ihm die sogenannten „Fickwetten“ genug Geld eingebracht haben. Da er so gut wie jedes Mädchen rumkriegt, scheint dieser Tag gar nicht mehr weit entfernt. Göttlich, wie Güntner ihren Helden in seinen Siegerposen schwelgen lässt: Am ersten Freibadtag – dem wichtigsten Sommerritual der Clique – klemmt Luis sich nach erfolgreicher Mission ein rotes Schamhaar zwischen die Zähne, kniet sich vor die Jungs hin und zieht den rechten Mundwinkel hoch. Ganz nach dem Motto: Ein Gentleman schweigt und genießt.
Mädchen aufreißen, Saufrituale an der Tanke, gemeinsames Wettpinkeln. Auf den ersten Blick geht Luist voll auf in seinem pseudo-selbstbewussten Machogehabe. Doch hinter der großen Klappe steckt ein weicher Kern, den Güntner immer wieder zwischen den Zeilen aufblitzen lässt. „Wäre ich ein Sessel, richtig aus Leder und so“, sagt Luis beispielsweise, „ich würde gern in Milans Stube stehen und nirgends sonst.“ Man kann sich natürlich fragen, wie authentisch die Reflektionen und poetischen Bilder sind, die den großmäuligen Jugend-Slang gelegentlich durchkreuzen. Fällt die Autorin hier aus der Rollenprosa? Oder ist das Feinsinnige, Verspielt-Poetische Teil der Figur? Zumindest wirkt Luis durch diese Brüche weniger eindimensional – man nimmt ihm die behauptete Intelligenz, die er im Cliquen-Alltag gut zu verstecken weiß, tatsächlich ab. Genau besehen, fallen seine verqueren Metaphern genauso wenig aus dem Erzählton wie die manchmal unbeabsichtigt hochphilosophischen Aussagen von Kindern deren Naivität negieren.
Als Luis sich seiner Angst vor Sonnenuntergängen stellt, umfasst er zur Beruhigung seinen eingeschlafenen Fuß. Das ist, stellt er erstaunt fest, „als würde ich Händchenhalten mit dem Fuß von jemand anderem.“
Ein Mädchen gibt es – außer seiner Ma – das Luis mehr bedeutet als eine schnelle Nummer oder schnelles Geld. Auch wenn er dies lange nicht vor sich selbst zugibt. Ihr Name ist Jenny, und sie ist eine „Immerguckerin“ – eine, die genauso neugierig und abenteuerlustig ist wie er. Was das bedeutet, begreift Luis allerdings erst, als er von ihrer stetig anwachsenden Achselhaarsammlung erfährt. Ja, auch Jenny sammelt Trophäen. Die Erkenntnis, dass ein Mädchen, das er bislang für ein bloßes Lustobjekt gehalten hat, mit ihm in punkto Eroberungslust auf gleicher Stufe steht, verunsichert ihn zutiefst und steigert zugleich seine Bewunderung für Jenny.
Und dann ist da noch Nutella, das Pony des Nachbarn. Luis besucht es allerdings nur heimlich, denn Ponys streicheln könnte schließlich „schwul oder weicheimäßig“ rüberkommen. Und das ist so ungefähr das Schlimmste, was einem Jungen in seinem Alter passieren kann. Dabei ist es gerade das ständige Beweisen-Müssen der eigenen Härte und Männlichkeit, das die kindlichen Reste in Luis verrät und nach und nach Kratzer in seine Fassade zeichnet.
„Was ich vorhabe, ist: meine Haut so zart machen, bis sie durchsichtig wird“ – so beginnt die vielleicht berührendste Szene des Buches, die Güntner beim Bachmann-Wettlesen 2013 vortrug. Auch wenn Luis das Verdrängen zum (Über-)Lebensprinzip erhoben hat, befällt ihn gelegentlich die Angst, ihn ihm drin könne sich etwas ereignen, das er wissen müsste, an das er aber einfach nicht rankommt. Mit derselben Beharrlichkeit, mit der er täglich fünfzehn Stockwerke hoch und runter rennt – alles Teil des Trainings – schabt er eine Woche lang mit seinem alten Kindermesser an seiner Haut herum, in dem vergeblichen Versuch, auf diese Weise zu sich selbst durchzudringen.
Als dann auch noch Milan, sein bester Freund und Chef der Clique, ein Verhältnis mit seiner Ma anfängt, ist es endgültig um Luis‘ Fassade des „Bringers“ geschehen. Die Dynamik der Clique gerät ins Wanken, und Luis befällt eine kindliche Verlustangst, die sich nicht einfach unterdrücken oder wegsaufen lässt. Der vielbeschworene Durchblick verdünnisiert sich hinter einem Geflecht aus komplexen Eifersuchten. Zum ersten Mal fühlt sich Luis am Ende seiner Kräfte, die ihm bis dato unerschöpflich schienen. Und zum ersten Mal begreift er, dass Verletzlichkeit kein Zeichen von Schwäche ist, sondern im Gegenteil das Zulassen von Schwäche wahre Stärke bedeutet. Ganz allmählich beginnt er, seine inneren Widersprüche, seine körperlichen und seelischen Blessuren wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen. Und macht damit einen großen Schritt in Richtung Erwachsenwerden.
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