Eine Großtat
Es gibt Autoren, zu denen – so will es einem scheinen – täglich Publikationen erscheinen; dieses überbordende Material ist kaum mehr zu sichten, wenn man sich mit diesen Autoren befaßt, sei es Celan, sei es Goethe, sei es Kleist: fast sind die Philologien zu jenen Autoren schon Wissenschaften für sich, im Rahmen einer hier ins Aussichtslose sich diversifizierenden Germanistik. Dieser außerordentliche Reichtum ist ein Segen, aber, wo er als Vorwand genommen wird, kenntnislos drauflos zu schreiben, auch ein Fluch: In der Tat ist die Sekundärliteratur zu diesen und anderen intensiv bedachten Autoren durchzogen von nur scheinbar Originellem, das teils am Kenntnisstand vorbeigeschrieben ist, teils aber auch Verdienstvolles ignoriert und längst Erkanntes als eigene Einsicht vorträgt – Plagiate aus Ahnungslosigkeit, sozusagen. Derlei ist unverzeihlich; doch, wenn man nicht will, daß Germanisten lebenslänglich nur zu einem Autoren schreiben, schwer zu vermeiden. Und man will das nicht, Celan-Philologie von Celan-Philologen für Celan-Philologen wäre letztlich ein Stillstand der Exegese, der Blick von außen ist nicht so unwichtig; Abhilfe schaffen Bibliographien, die, was zunächst unüberblickbar ist, wieder sichtbar machen, ordnend und kommentierend, jedenfalls wird es so möglich, sich einzuarbeiten, ohne lebenslange Treue zu schwören und als Germanist mit seinem Autoren verheiratet zu sein.
Eine solche Bibliographie ist Wolfgang Barthels Kleist – DDR. Der kleinere deutsche Beitrag zur Kleist-Rezeption, wie er sein Werk untertitelt, wäre unüberschaubar genug, hätte sich Barthels desselben nicht angenommen. Übrigens ist zugleich, was bescheiden ist, auch begründet: Der Band ist der fünfte aus der Reihe der Heilbronner Kleist-Bibliographien, die anderen vier – im Wesentlichen vom Reihenherausgeber Günther Emig betreut, einem unermüdlichen Verteidiger Kleists, nämlich der Standards, die man sich für dessen Behandlung wünschen darf und muß –, erschließen noch erschlagendere Sekundärliteraturgebirge.
Nach Jahren geordnet bietet Barthel die Publikationen – Editionen, Kritiken, Deutungen und vieles mehr, selbst unter „freier Verwendung” Kleists entstandene Filme –, wobei jedem Eintrag Informationen zum Inhalt beigesellt sind, mitunter in Form zentraler Zitate der verzeichneten Beiträge. Hier werden auch frühere Erscheinungsorte und dergleichen angegeben. Und es finden sich Faksimiles, die die Kleist-Rezeption in der DDR belegen, die, wie der Band zeigt, kaum ideologisch war, Bedenken gegen diesen preußischen Militarismus zum Trotz; die Unübersichtlichkeit und Komplexität dieses philologischen Gebietes hätte die Zensur überfordert, hätte sie sich ernsthaft auf die Interpretamente eingelassen, die hier oft kenntnisreich und originell entstanden und nun bewahrt sind. Ein kluges Vorwort führt in die Eigenart der Rezeption Kleists in der DDR und seine Wirksamkeit ein, ein Register rundet den Band ab. Es ist beeindruckend, daß Barthel im Alleingang damit schuf und schaffte, was die institutionalisiertere Germanistik verschiedener Universitäten entweder als zu behebendes Defizit zu erkennen verabsäumte oder aus anderen Gründen jedenfalls nicht zuwege brachte; als einstiger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte in Frankfurt/Oder bietet er so auch einen Einblick in die Leichtfertigkeit, mit der die West-Germanistik („der gesamtdeutsche Westen”1, wie es in einer Laudatio zum 75. Geburtstag des Autors hieß...) mitunter jene der DDR bagatellisierte, ohne es überhaupt zu bemerken.
Soll man nun diesen Band lesen – und die erwähnten anderen der Heilbronner Kleist-Bibliographien..? Auch wenn sich mit Lektüren das Wort Müssen schlecht verträgt, halte ich noch das Wort Sollen für blanke Untertreibung; man soll, ja muß diese Bände durchstöbern, jedenfalls, wenn man aussichtsreich zu Kleist sich zu äußern gedenkt. Profund, geistreich und unaufdringlich instruktiv begleiten einen Emig und hier vor allem Barthel ins Kleist’sche Labyrinth, man kann dieses vom Heilbronner Kleist-Archiv Sembdner gemachte Angebot nicht guten Gewissens ausschlagen.
- 1. Martin Maurach: Wolfgang Barthel zum 75sten. In: http://www.stimmings-inn.de/wolfgang-barthel-zum-75sten/, 1.12.2013
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