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Kritik

Die großen Tragödien unscheinbarer Existenzen

Hamburg

Es steckt bereits im Titel. Spätestens morgen lautet der nämlich, klingt wie ein entschuldigendes, aber aufschiebendes Versprechen. Spätestens morgen wird alles besser. Spätestens morgen werden sich die Träume erfüllen. Spätestens morgen lassen wir all das hinter uns. Passieren wird das alles wohl nicht. Das ist das Problem, mit dem das Personal von Zoë Jennys auf unterschiedliche Arten zu hadern hat: Morgen wird immer noch alles beim Alten sein. Oder, noch schlimmer, alles genauso wie gestern und heute auch. Oder aber, wenn es richtig schlecht läuft, dann wird morgen alles vorbei sein.

Diesen zwölf Kurzgeschichten, die die Autorin des Erfolgsromans Das Blütenstaubzimmer auf wenigen Seiten spinnt, wohnt wenig Hoffnung inne. Es geht um Scheitern, um Ausbrechen wollen und nicht -können, um zynische Schicksalsschläge, Entfremdung und Depression. Kaum eine der Figuren erlebt auch nur ansatzweise so etwas wie Glück. Einige der Figuren leben am Ende ihrer desperaten Geschichten nicht einmal mehr. Spätestens morgen wird von einem latenten, lähmenden Pessimismus durchzogen.

Der nimmt penetrante, ja sogar deterministische Züge an. Es ist viel von Kindern und Jugendlichen zu lesen, Existenzen also, die in diesen Mikrokosmen schon zu Beginn oder, noch dramatischer, mitten in ihrer Entfaltung alle Hoffnung fahren lassen und der bitteren Realität ins Augen schauen müssen. Ob nun in Shanghai, New York oder in namenlosen Städten; ob heutzutage oder aber zu Zeiten der Kennedy-Familie; ob angehende Musiker, frustrierte Städteguides oder arrivierte Schriftsteller: Von großen Tragödien werden diese unscheinbaren Existenzen eher früher als spätestens morgen ereilt. Das Schicksal schlägt heute zu, unerwartet und mit voller Wucht.

Schön liest sich das nicht. Nicht nur, weil es deprimierend ist. Sondern weil Jenny ihren Charakteren nicht genug Platz schafft, sich auszubreiten. Anstatt die Schwächen und Schattenseiten der Figuren vor ihrer Leserschaft subtil auszubreiten, packt sie diese lieber am Finger, um ihn direkt auf die offenen Wunden zu legen. Sie erzählt statt zu zeigen. Das ist mindestens so unelegant wie der leblos wirkende Stil, in dem die Geschichten vor sich hin laufen. »Du wirst schon sehen, welch großer Fehler es war, dies deinen Eltern anzutun«, schreit Yakos Vater, als dieser dem Elternhaus für immer den Rücken zu kehrt. Selbst für einen Japaner ist das eine reichlich steife Ausdrucksweise.

Was bleibt also von Spätestens morgen? Herzlich wenig. Hier und dort wird deutlich, dass Jenny sich entweder an den Fehlern der Elterngeneration oder Gesamtgesellschaft abarbeiten will – an denen beißen sich nämlich die meisten ihrer Charaktere die Zähne aus. Je jünger das Personal, desto tragischer scheint das – und desto suggestiver. Die versteckte Kritik bleibt diffus und ist angesichts der Larmoyanz, welche die zwölf Kurzgeschichten durchzieht, zu plump verpackt, um ihre Wirkung zu entfalten. Spätestens morgen echot nicht nur mit seinem Titel Myriaden von leeren Versprechungen – dieses Buch ist leider selbst eine.

Zoë Jenny
Spätestens morgen
Frankfurter Verlagsanstalt
2013 · 124 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-627-00197-1

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