Der Sprung in den Ursprung
Am 10. März erscheint der neue Roman von Ulrike Draesner „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Es wird darin um Vertriebene gehen, um „Verzogene“, so sollte der Roman zunächst heißen, Menschen, die für sich selbst unbekannt verzogen sind, die ihre Heimat verloren, und im besten Fall eine neue gefunden haben. Und was das für die nachfolgenden Generationen bedeutet. Für die Nachkriegsgeneration, aber auch für uns. Welche Auswirkungen hat der Verlust von Heimat bis in die Gegenwart? Wie vererbt sich so eine Erfahrung auf Kinder und Kindeskinder?
Diesen Fragen wird der Roman nachgehen, indem sechs Vertriebene von zwei Vertreibungen erzählen werden, verteilt auf vier Generationen.
Eine der Vertreibungsgeschichten handelt von der Vertreibung von Ost- nach Westpolen. Bei Recherchen für diesen Erzählstrang machte Ulrike Draesner die Erfahrung, dass in Polen die Geschichten kaum dokumentiert waren, dass sie dort vielmehr einen „oralen Schatz“ bildeten. Ebenso wie sie es aus der eigenen Biografie kennt. In ihrer Familie gab es einen „geheimen“ Ort, bestehend aus einem bestimmten Personenkreis im Wohnzimmer der aus Schlesien vertriebenen Großeltern, wo man die verlorene Heimat aufleben ließ. In Erzählungen.
Zentral für diesen Roman waren nicht zuletzt Gespräche mit dem Vater, nicht weniger zentral war allerdings die dichterische Freiheit als unerlässliche Grundbedingung, überhaupt schreiben zu können.
Insgesamt ist dieser Roman ein Versuch biografische Fakten, Erzählungen und Erlebnisse in Literatur zu verwandeln, nutzbar zu machen für die Frage, was Heimat ist, was das mit Herkunft zu tun hat und nicht zuletzt, wie fiktive Texte als Mittel zur Erkenntnis dienen können.
Kunst und Literatur sieht Draesner nicht zuletzt als Möglichkeit unverarbeitete, verschwiegene und mit Scham besetzte Ereignisse zu verarbeiten und somit letztendlich doch auszusprechen.
Die Sprünge vom Rand der Welt, bezeichnen das Aus-der-Welt-Fallen der von Flucht und Vertreibung Betroffenen. Im Roman gibt es aber eigentlich nur sechs Sprünge, der siebte Sprung ist der Sprung in die Entstehung des Romans. Der Sprung in die Öffentlichkeit und ins Netz. In das Experiment im Internet den Arbeitsprozess des Schreibens ein Stück weit offen zu legen, Quellen preiszugeben, um im besten Fall die eigenen blinden Flecken sichtbar zu machen. Sie betrachte dieses Projekt auch als Teil eines Redlichkeits- und Schreibprozesses, erzählte Ulrike Draesner Mitte Februar auf der Veranstaltung „Die drei Hälften der Torte. Vom Wissen der Literatur“, die den Abschluss der Tagung „Literatur und Wissenschaft“ des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld bildete.
Mit ihrem Projekt „Der siebte Sprung“, trifft Draesner offensichtlich einen Nerv. Die Dokumentsammlung zum ersten Weltkrieg, die kürzlich unter der Adresse „europeana1914-1918.eu“ online gegangen ist, machte jedenfalls die Erfahrung, dass es offensichtlich etwas Befreiendes haben muss, die Familienerinnerungen öffentlich zu machen.
„Während der jüngsten Aktionstage in der Berliner Staatsbibliothek fanden sich erstaunlich viele Menschen ein, die meisten augenscheinlich Rentner, die bereit waren, drei, vier Stunden zu warten, um ihre Familiengeschichte vorzutragen. Sie wollten erzählen, was sie von Eltern und Großeltern gehört hatten, um sicherzugehen, nicht die letzten Zeugen dieser Familiengeschichten zu sein“, schreibt Stephan Speicher am 14. Februar in der Süddeutschen Zeitung.
Im siebten Sprung legt Ulrike Draesner schon jetzt Tag für Tag eine Quelle offen. Feldpostkarten aus dem ersten Weltkrieg, Bilder von Breslau vor dem Krieg, sowie, im Lexikon der „reisenden Wörter“ Phänomene wie Postmemory oder Memory Cascading. Vom 03. bis 09. März wird ein Essay Draesners zum Roman erscheinen. Danach erhofft sich die Autorin ein Gespräch mit dem Publikum, das vielleicht eigene Geschichten beitragen wird.
Ich bin gespannt.
Nicht nur auf den Roman, sondern auch auf dieses „Nachspiel“, auf den siebten Sprung.
Anm. der Redaktion: Die Webseite für alle Interessierte zum Mitlesen finden Sie hier.
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