Schlechtes Lesen #2
Es geht um eine öffentliche Kollegenschelte: um ein „extrem konservatives Weltbild“, das Nora Bossong angedichtet wird.
Vor kurzem lieferte sie in der ZEIT ein Meinungsbild, in dem sie Georg Diez vom Magazin SPIEGEL anhand seiner markanten Fehlinterpretation eines Gedichtes von Jan Wagner einer durch Beschleunigung, Informationsflut und Aufmerksamkeitsheischerei verflachten Textrezeption überführte und genau darin einen Beweis für eine verborgene politische Dimension auch der Wagnerschen Lyrik ausmachen konnte: der aufmerksame, sensibilisierte Leser könnte so einen Quatsch, wie ihn der Profi Diez posaunt, nicht verzapfen, weil es ihm (im Gegensatz zu Diez) noch möglich ist „zu lesen“ und dabei in der Lyrik etwas zu finden, das über das eigene Denkflickwerk hinausgeht.
Das ist – grob gesagt – der Textsinn, der hinter folgendem Zitat von Nora Bossongs Aufsatz in der ZEIT steckt:
„Wenn professionelle Leser (wie Kollege Diez; Anm. FM) nicht vermögen, was jeder Schüler mit Goethes Heideröslein gelernt haben sollte, zeigt sich darin das eigentlich Verheerende. Denn wie soll sprachlich auf "extrem politische Zeiten" reagiert werden, wenn beim Rezipienten der Umgang mit Sprache durch Beschleunigung, Informationsflut und Aufmerksamkeitsheischerei kontinuierlich verflacht? Dass sich Lyrik, ob konventionell oder experimentell, dieser Entsensibilisierung widersetzt, zeigt auch ihre politische Dimension.“
Man kann dazu noch das sagen: Wie platt soll eine Lyrik in „extrem politischen Zeiten“ sein, damit sie ein Herr Diez als politisch wirksam erkennt? Auch diese Frage steht zwischen Bossongs Zeilen. Und ich glaube ihr ihren Gram gegen Diez bis in die Zehen – seine Kommentare sind oft echte Stimmungsmache, er ist einer, der über alles hinweghudelt. Ein Musterbeispiel für schlechtes Lesen und schlechtes Verstehen.
Ich bin da ganz bei Bossong. Aber ich bin nicht bei Kollege Jan Kuhlbrodt, der in seiner Entgegnung auf postkultur über den obigen Satz schrieb:
Hinter dieser Formulierung steckt ein extrem konservatives Weltbild, das in allem eine Verflachung sieht, und natürlich eine Entsensibilisierung.
Aufmerksamkeitsheischerei. Eine Wortschöpfung, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Klar wir könnten ja alle für die Zeit schreiben, dann hätten wir das nicht nötig. Und wir bekämen es dann auch noch bezahlt. Oder etwa nicht?
Bossong schiebt uns, und ich identifiziere mich jetzt mal mit Scho, Genschel und Breyger, in die Ecke eingeschnappter Leserbriefschreiber.
Keine Ahnung, was Kuhlbrodt da verstanden hat? Geschrieben hat das Bossong nicht.
Kuhlbrodt geht schließlich so weit ihr phantasievoll Dinge zu unterstellen, die eher bei Diez & Co. aufgehoben sind, z.B. sie fordere Massenwirksamkeit von der Lyrik ein.
Das ist aber gar nicht der Fall: Nora Bossong wehrt sich gegen den Vorwurf Lyrik (à la Wagner) sei harmlos, klein, drollig, bloß weil sie dem Hudler und Oberflächler Diez (der mit seinen Kommentaren die Massen anspricht) so scheint. Lyrik hat deutlich mehr auf und in der Pfanne. „Dass sich Lyrik, ob konventionell oder experimentell, dieser Entsensibilisierung widersetzt, zeigt auch ihre politische Dimension.“
Kann man sich deutlicher pro Lyrik (jeglicher Spielart) aussprechen und ihr ein immer vorhandenes politisch wirksames Potential attestieren?
Einschub aus der Psychologie:
„Sowohl das Problem wie die Schicht, welche die Lösung produziert, wird im Individuum sichtbar, beide aber sind kollektiv fundiert. Das gerade macht die Erfahrung des einzelnen Menschen so bedeutsam. was sich in ihm abspielt, ist beispielhaft für das Ganze, und die Lösungsansätze, die für ihn Lösungen und Erlösungen bringen, sind der Beginn künftiger Werte unld Symbole des Kollektivs“ Erich Neumann, ein ehemaliger Mitarbeiter von C.G. Jung, schrieb diese Sätze auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus in seinem Buch „Tiefenpsychologie und neue Ethik“, das er 1948 dann in Tel Aviv fertigstellte. Und weiter:
„Der Einzelne und sein Schicksal sind prototypisch für das Kollektiv, sie sind die Retorte, in der die Gifte und Gegengifte des Kollektivs destilliert werden. Darum gerade ist das seelische Tiefengeschehen, das den Einzelnen erfaßt und sich in ihm als erfahrbar erweist, für eine Zeit des Übergangs und des kollektiven Normenzerfalls von eminenter Bedeutung.“
Der Poet ist (nach Neumann) also genau so ein Prototyp wie der Amokläufer oder der Hollywoodstern und seine spezielle Weltantwort spielt sich in das Geschehen des Kollektivs hinein als eine prägnante Spiegelung der von ihm durchlebten Verlustgeschäfte und/oder Gewinne.
Poesie hat gesellschaftliche Relevanz.
Nora Bossong stellt in ihrem ZEIT-Artikel eine wichtige Frage: „Nur wie weit ist her mit dem kritischen Potential von Sprachirritation, wenn sie kaum jemanden mehr erreicht?“ Es ist vielleicht die Frage, die Kuhlbrodts unglückliche Entgegnung herausforderte.
Hand aufs Herz: Würde jemand behaupten wollen, daß die avantgardistische Lyrik von heute jemanden anderen als avantgardistische LyrikerInnen erreicht? Ich kann am Industriestandort, an dem ich meinem Brotjob nachgehe, jeden einzelnen der rund 4000 Mitarbeiter befragen, niemand wird auch nur eine Idee davon haben, was „Lyrik von Jetzt!“ bedeutet, geschweige denn einen Namen oder ein Gedicht nennen können. Auch wenn ich meine Tochter in Berlin besuche und durch die Straßen schlendere – da sähe die Resonanz nicht wirklich anders aus.
Sprachirritation erreicht nicht wirklich jemanden außerhalb der Lyrik-Sphäre, und dort nur wenige Dutzend.
Was vielleicht auch nicht wirklich wichtig ist. Wichtig ist, daß man das, was man tut, gut und authentisch tut. Den „Wert“ solchen Tuns, kann man nie selbst abschätzen und erweisen erst die Zeitläufte. Das Potential gesellschaftlicher Wirkung von Gedichten ist nicht zu beziffern.
Als ich in meiner Jugend Gedichte von Bernhard Keimel las, hat das eine ungeheure Leidenschaft in mir losgetreten, die dazu führte, daß ich diese Sätze heute hier schreibe. Aus Keimel ist kein Dichter geworden, er hat bald nach der Veröffentlichung seines Buches aufgehört zu schreiben. Seine Gedichte kennt kein Mensch, aber sie sind mit verantwortlich für die Texte, die ich heute fabriziere. Sie haben mich radikalisiert und individualisiert, obgleich sie nicht explizit „politisch“ sind. Ähnliche Erlebnisse gab es mit Ekelöf, Meckel und Brambach. Und Heinz Ehemann, aber wer kennt den? Und unmöglich für Ehemann zu wissen, daß es „da draußen“ jemanden gibt, der von seinen Gedichten beeinflußt wurde. Ich habe es nie jemandem verraten.
Das, was Gedichte in mir und mit mir machen und letzten Endes bewirken, kann keiner wissen und man kann es nicht messen. Auch die Höhe der Kuhlbrodtschen Palme ist beeinflußt von der Verteidigung von Leseerlebnissen, die wir nicht kennen. Leseerlebnisse sind schließlich echte Erlebnisse und wie diese prägen sie uns. Lyrik verändert unser Leben.
Die Frage ist dennoch erlaubt: Kann Sprachirritation heute noch dasjenige sein, was „lyrische Faszination“ auslöst? Auf welche Weise muß Sprache heute irritieren, damit sie Wirkungen erzielt und muß sie überhaupt noch irritieren? Ist man gleich extrem konservativ und muß entsprechend gebrandmarkt werden, weil man fortschrittliche Fragen denkt, bzw. im Fortschreiten Fragen stellt, ob die Schritte die richtigen sind?
„Was ist eine Avantgarde, die zwar noch als ästhetische Vorhut neues Terrain erkundet, doch keine Truppe mehr hinter sich hat?“ fragt Nora Bossong und findet hier zurück zum Ursinn des Wortes Avantgarde und spekuliert mit dem Geschicktsein im Auftrag der Truppe. Aber es gibt in der künstlerischen Avantgarde kein Geschicktsein, es gibt keine Truppen im Rückraum, es gibt nur den Einzelnen, der etwas erkundet, von dem er oft nicht mehr weiß, als daß es sein Suchen für einen Moment zur Pause zwingt. Er ist dort genauso allein, wie der Leser im Nachgang mit dem Text allein sein wird. Insofern läßt sich die Frage von Bossong so nicht stellen.
Man könnte eher fragen, ob das Terrain, das man erkundet, ein Terrain von Interesse ist. Und welche Kriterien die Erkundung bedient.
Zurück zum „schlechten Lesen“: es ist erstaunlich und markant wie schnellschüssig oft „rezipiert“ wird. Das ist vielleicht ein Merkmal der Zeit und auch das Merkmal der Zeit, dem Nora Bossong das andere Lesen, das Lesen von Gedichten entgegenhält. Lyrik ist ein Mittel der Verflachung entgegenzuwirken, indem sie verweilt und Bohrungen vornimmt, Dimensionen erkundet, andere Chemie wahrnimmt.
Diez hat keine Zeit und ist damit auf Höhe der Zeit. „Schlechtes Lesen“ ist weit verbreitet, scheint klischeegesteuert zu operieren, im Text nur noch an Schlüsselwörtern festzumachen und damit grob zu stricken. Es ist das schnelle Scrollen und Überfliegen, das Textmarkern auf der Mustersuche, das Runterbrechen auf die Formel, und damit ist es letzten Endes die Ablehnung von Komplexität, die Weigerung Details „weit“ zu denken und auf „lange Sicht“. Die Landschaft, die das schlechte Lesen aufschließt, zeigt Merkwürdiges vom Überflug. Langsam bis zeitlos durchschrittenes Gebiet hat Platz für andere Geschehnisse schon auf kleinstem Raum, Mikrodramen, aber auch komplexe Reisen. Wer Lyrik zu lesen versteht, nimmt anders wahr und führt ein anderes Leben.
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Kommentare
Artikel Nora Bossong
Ein schöner Artikel. Über die Beiträge von Herrn Dietz muss man sich eigentlich überhaupt nicht auseinandersetzen, die erledigen sich von selbst. Von Jan Kuhlbrodt kenne ich nur "Stötzers Lied" und da sollte er sich mit Aussagen wie "Verflachung" nicht so weit aus dem Fenster lehnen, so tiefschürfend ist das nämlich auch nicht. Aber die Artikel von Nora Bossong in der "Zeit" und in "metamorphosen", #35, haben mir ausgesprochen gut gefallen, die hat im Gegensatz zu den anderen beiden wenigstens was zu sagen.
metamorphosen #35
Schlechtes Lesen #2
"Was vielleicht auch nicht wirklich wichtig ist. Wichtig ist, daß man das, was man tut, gut und authentisch tut. Den „Wert“ solchen Tuns, kann man nie selbst abschätzen und erweisen erst die Zeitläufte. Das Potential gesellschaftlicher Wirkung von Gedichten ist nicht zu beziffern." Zitat FM
Danke Frank Milautzcki!
Besser lässt es sich gar nicht ausdrücken!
@Moritz Kersten
Mich überzeugt sie nicht. Man schaue sich die Argumentationskette an. Nora Bossongs Artikel legt einen Zusammenhang zwischen der sehr schwachen Polemik von Diez und den Standpunkten der Lyriker, denen die Preisverleihung wenig bedeutet. Es erzeugt gegen diese LyrikerInnen einen ungerechtfertigten Eindruck des Unglaubwürdigen oder Falschen, dass sie diese Menschen, die Klügeres zu sagen haben, mit Diez in eine Reihe bringt. Das ist offenbar kein Lapsus, sondern scheint mir systematisch für die Debatte: Michael Braun etwa hatte diesen Zusammenhang ebenfalls bereits nahe gelegt. Es ist Ausdruck eines öffentlichen Misstrauens gegen bestimmte Positionen, dass die einen hier haftbar sein sollen für den Unfug eines Anderen.
Und ich beobachte schlankweg gar nicht, was Nora Bossong behauptet, nämlich dass die Lyrikszene jetzt verunsichert sei, weil einer so erfolgreich ist. Allenfalls mag Nora Bossong verunsichert sein, aber nicht einmal das mag ich glauben, obwohl sie ja nachdenklich wird ... offenbar.
Von der Jury des Buchpreises, profiliert als Spezialistin für Romane, lasse ich mir gern sagen, dass Wagner besondere Qualitäten habe für denjenigen, der das sucht, was diese Jury suchte. Nicht die Hälfte der vielen Käufer werden genau das gesucht haben, was sie dann bekommen haben. Manch einer wäre vielleicht mit Lutz Sailer glücklicher geworden, ein anderer vielleicht sogar mit Nora Bossongs texten? Dennoch mögen viele mit dem Buch am Ende zufrieden sein, das sicher in seiner Art in Ordnung ist. Was solls denn? Wenn mir Mara Genschel oder Sabine Scho sagten: "Lies mal Jan Wagner, das ist der Hammer!" würde mich das eher zum Nachdenken anregen. Aber diese Jury bewegt mich nicht, den einen intensiver zu studieren als beispielsweise Ron Wnkler ... oder Nora Bossong oder oder ...
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