MEET THE BETRIEB
Wir reden über Literatur, steht auf der Klingel des Hauses, unter dessen Dach ich seit Jahren Fixpoetry herausgebe. Das ist ein, bewusst gewählt, weit zu fassender Satz, der unterschiedlichen Umgang mit Literatur zulässt. Gedichte, Texte, Literarische Selbstgespräche, Lesarten u.a. – und KRITIK.
Womit wir beim Thema wären: Zur prekären Lage der Lyrikkritik – signaturen magazin, Tristan Marquardt 24.3.2016. Lesen Sie selbst!
Es geht nicht alleine um Lyrikkritik, es geht um die Literaturkritik im Allgemeinen. Anlässlich der Verleihung des Leipziger Buchpreises 2016 stimmte die Sprecherin der Jury Kristina Maidt-Zinke ein Lamento an. Wieviel lieber würden Literaturkritiker in ihrem stillen Kämmerlein sitzen und fundierte Rezensionen schreiben. Und wie sieht es heute aus? Die armen Kritiker müssen Lesungen moderieren, Juryarbeit leisten, sich in Podiumsdiskussionen über Formen von Kritik auseinandersetzen. Sie möchten mir leid tun die armen Kritiker, und ich möchte sie an die Menschen erinnern, die 2 – 3 Berufen nachgehen müssen, um ihre Familien ernähren zu können. An die Menschen, die durch den Wegfall von ganzen Produktionsstätten sich vollkommen neu orientieren müssen, die den von ihnen gewählten Beruf durch Umstrukturierung in der Arbeitswelt verloren haben. Viel zu lange hat die Verlagswelt den Veränderungen, die durch die Digitalisierung entstanden sind, zugesehen. Die Züge sind durchgerauscht, und jetzt ist es schwer, auf einen aufzuspringen - zumal sie alle nicht unbedingt vielversprechend sind. Digital ernüchtert steht das Zeitungswesen vor Bezahloptionen und anderen kaum wahrgenommenen Alternativen. Diese Eiszeit ist die Chance für alle, die neue Wege gehen wollen, sowohl in der Veröffentlichung und Verbreitung von Literatur als auch im Wesen der Literaturkritik.
Ich habe keine Lösung für diese Probleme. Ich weiß nur, dass die Literatur Foren braucht, um über Literatur zu reden und ich weiß eines ganz gewiss, dass es ohne das Engagement vieler junger und auch bereits etablierter Autorinnen nicht möglich wäre, Fixpoetry in dieser Regelmäßigkeit und inhaltlichen Stärke herauszugeben. Ich plane alle Beiträge lange vor ihrem Erscheinen. Ich reagiere auf Vorschläge aus dem Netzwerk der Kritikerinnen, wir redigieren mittlerweile jeden Beitrag, ich achte auf Ausgewogenheit in den Genres Belletristik, Sachbuch und Lyrik. Die Inhalte von Fixpoetry sind also keine Zufallsprodukte, sondern das Ergebnis redaktioneller Arbeit und Reaktion auf das Geschehen im Literaturbetrieb. Wobei ich ausdrücklich betonen möchte, diese Seite leistet es sich ganz bewusst, auch Autorinnen zu Wort kommen zu lassen, die noch am Anfang ihrer Rolle als Rezensentinnen stehen. Denn, und das halte ich für ausgesprochen wichtig, wo sonst kann langfristig Qualität entstehen, als im Austausch mit den Leserinnen und in der Nutzung digitaler Strukturen.
Aber was ist denn nun eine zeitgemäße Literaturkritik? Wir hier bei Fixpoetry reden ständig darüber und meines Erachtens kann man das sehr einfach festmachen:
Eine Literaturkritik (be-) richtet und erzählt.1
Eine optimale Kritik, wie ich sie mir für Fixpoetry wünsche, fällt kein wissenschaftliches Urteil, enthält sich der Wertung, zeigt aber am Text Struktur und Beziehungen auf. Das Kriterium ist nicht das Gefühl, Gefühl und Intertextualität trennen sich.
Die wichtigste aller Adressatinnen scheint mir in all den Diskussionen immer wieder vergessen zu werden: die LESERIN. Wir bei Fixpoetry schreiben für die Leserin, die "Endverbraucherin",die gerade in der Sparte der Lyrikkritik besonders gerne vergessen wird. Möglicherweise weil es so wenige Leserinnen gibt und der Frust über diese Tatsache zum Suhlen im eigenen Saft verleitet.
Man muss nicht unbedingt über seinen eigenen Geschmack schreiben, wenn man z.B. über Marion Poschmanns neuen Band nachdenkt, und man muss sich auch nicht nur auf streng literaturwissenschaftliche Parameter berufen, Nein. Ich zitiere Jürgen Brocan:
„Klug über Dichtung zu schreiben — das bedeutet, nachvollziehbar und mit Gewinn auch für den Leser, der nicht mit theoretischem Rüstzeug überreichlich ausgestattet ist —, bleibt eine Herausforderung, die souveränen Umgang mit dem Stoff genauso verlangt wie eine gewisse Bodenhaftung.“
Die Erfahrungen, die wir, die wir allesamt Leserinnen sind, mit Literatur machen sensibilisiert unsere Sprache. Literatur befreit und hilft auf andere Weise zu denken und zu handeln.
Insofern ist die sprachliche Darstellung dessen, was wir in einem Werk verstehen, nicht nur Ausdruck unserer Freiheit, sondern sie gestaltet sich auch als eine Erfahrung mit ihr, die als solche immer einen offenen, freien Ausgang hat. Aus dem Aufsatz: Literatur als gewaltlose Praxis, Cesare Giocobazzi, Seite 30, (be-)richten und erzählen, Wilhelm Fink Verlag 2011
„Im Grunde fangen wir zu früh an, Kritiken zu schreiben" (Anton Thuswaldner in Volltext), „aber womöglich gilt dies nur, wo Kritik als finales Urteil fungieren will, nicht als Frage, als Impetus, als all das, wovon als Kritik immer wieder geträumt wurde“ (zitiert Martin A. Hainz) in der ersten Folge der Reihe express! bei Fixpoetry
Eine gute Kritik lässt der Leserin diese Freiheit. Sie behält den Text im Auge, kommuniziert und agiert mit ihm, und lässt die Leserin begreifen und vergleichen. Last but not least, sie darf auch unterhalten, nein, das ist keineswegs verboten und schließt eine sachliche Kritik nicht aus.
Wir hier bei Fixpoetry schreiben nicht für den Betrieb und nicht jedes Buch eignet sich für eine Kritik, die alle diese Komponenten mit einbezieht.
Auch wenn ich mich jetzt wiederhole: Über die Fragen an das Buch hinaus sollten alle Kritikerinnen, die für Fixpoetry schreiben, die eine und Wichtigste Adressatin nie aus dem Auge verlieren: DIE LESERIN.
Darauf achte ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen. Es geht weiter ...
- 1. (BE-)RICHTEN UND ERZÄHLEN. Literatur als gewaltfreier Diskurs, Moritz Baßler, Cesare Giacobazzi, Christoph Kleinschmidt, Stephanie Waldow, (Hrsg.) Wilhelm Fink Verlag 2011
Fixpoetry 2016
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