th;dr (too harmless; didn’t read)
Tristan Marquardt unlängst in den signaturen:
„Das sicherlich größte Desiderat sind neue, professionellere Orte für Lyrikkritik sowie mehr unabhängige und besser ausgebildete Rezensent_innen. Das ist angesichts der prekären Lage der Lyrikförderung schwer zu bewerkstelligen, aber nicht unmachbar. Denn in den vorhandenen Fördertöpfen und -institutionen für Lyrik spielen Rezensionen bisher keine Rolle. Die institutionelle Wertschätzung von Lyrikkritik ist minimal. Hier gilt es, dezidiert darauf aufmerksam zu machen, dass Projekte zur Lyrikförderung in Zukunft dringend auch diesen Bereich zu berücksichtigen haben. Die finanzielle Ermöglichung einer redaktionell betreuten Rezensions-Plattform etwa, die weder auf das Privatvermögen einzelner Begeisterter noch auf die Bereitschaft der Rezensierenden, für Geringstbeträge zu arbeiten, angewiesen ist, wäre von unschätzbarem Wert. Sie hätte mit Garantie positive Folgeeffekte für den Bücherverkauf und das generelle Interesse an den Autor_innen. Sie wäre Förderung in mehrfacher Hinsicht und zwar teuer, aber von vergleichbarem Nutzen wie das unverzichtbare Gedicht-Archiv lyrikline.org.“
Meine erste Reaktion auf dieses Zitat (aufgeschnappt in der lyrikzeitung): Was ist ein professioneller Ort für Lyrikkritik? Ein Ort an dem Geld fließt? Marquardt sagt uns auch gleich, woher das Geld kommen soll – aus den öffentlichen Töpfen.
Mir scheint das zu einfach gedacht. Ich sehe das nicht. Zunächst ohne Begründung. Intuitiv weigere ich mich eine akademisch ausgebildete Elite, von öffentlichen Geldern bezahlt, über die Güte von Lyrik diskutieren zu sehen. Ich fange an zu überlegen, warum es meiner Meinung nach d i e „redaktionell betreute Rezensions-Plattform“ nicht gibt und auch nicht geben kann. ….
Ich sehe das Bedürfnis wahrgenommen zu werden, oder sagen wir: literarisch wahrgenommen und vielleicht sogar geadelt zu werden, aber wenn, dann mindestens auch professionell. Wozu Marquardt anhebt ist der Anspruch „professionell“ besprochen zu werden. Im Endeffekt ist es doch so, daß es zwei Sorten von Autoren gibt: Solche, die besprochen werden und solche, die besprechen.
In der Regel tauscht sich das, und oft genug verpflichtet sich das gegenseitig, sodaß wir Gefälligkeiten erleben und Szenenfreundlichkeit. Generell gibt es Befürchtungsabwägungen. Wer einmal den Sturm der Entrüstung bspw. in der Lyrikzeitung (heute wäre es facebook) über sich hat übergehen lassen müssen, weil er nicht szenegerecht argumentierte, überlegt sich hinterher dreimal, ob er eine Rezension wieder „unabhängig“ aufsetzt. So zerbeißt die Lyrikpolizei regelmäßig viele kritische artfremde Ansätze, verschreckt und nivelliert damit ungewollt das Niveau der Wortmeldungen innerhalb der Szene. Nicht alle schaffen es, unbeeindruckt davon zu bleiben. Es gibt aber auch Unabhängigkeit, die als Grandengnade daherkommt, verdiente Großmeister des Betriebs, und es gibt Unabhängigkeit mit Outsiderchic (dazu zähle ich mich). Das alles hat nicht nur mit der Autorschaft, sondern auch mit der Leserschaft von Rezensionen zu tun, mit Szenendynamik und Positionskämpfen, Andienung bis Anbiederung, Taktik, Strategie, Generationsebenen und Diskursflächen.
Wir erleben beispielsweise, daß eine Person, die immer ihre schätzungsweise zehn „likes“ nach einer Meldung auf facebook bekommt, plötzlich keine mehr erzielt, kaum, dass sie ungewollt zum Szenegespräch wurde - obwohl die Person nach wie vor integre und interessante Literatur schreibt (beispielsweise Nora Bossong). Das heißt dann aber auch nicht, daß diese Person nun plötzlich real unbeliebt geworden wäre: Sie ist respektierter als zuvor, wird aber nicht mehr öffentlich geliked. Es gibt eine große Leserschaft, die nicht bekennt. Sehr oft ist es auf fixpoetry so, daß jene Artikel, die am wenigsten geliked werden, deutlich die meisten Leser haben (wie wir als Admins wissen).
Ich sags so: Wer seinen Weg mit Bedacht wählt und geht, braucht das Bellen nicht fürchten. Rezensenten insbesondere leben immer in der Gefahr, zu viel von der eigenen Meinung auf den Tisch zu bringen. Sie kämpfen damit, unabhängig zu scheinen, es aber eigentlich parteiisch zu meinen.
Ich denke, eine von der Person des Rezensenten unabhängige Kritik gibt es nicht. Und was fehlt, ist m.M.n. nicht „Professionalität“ im Sinne akademischer Betrachtung, ausgebildetes Spezialistentum (das wir längst haben, nachdem zig Generationen Hildesheim und Leipzig und Wien hinter sich gebracht haben und nun in die „Ämter“ des Betriebs drängen) - wobei ich nicht weiß, ob Marquardts Verständnis von Professionalität ein qualitatives oder ein monetäres ist - sondern ein unverbelltes Klima, in dem sich Gegensätze nicht nur aushalten, sondern auch respektieren, gerade weil die Lyrik kein Allgemeinplatz, sondern immer ein intimes Spiel ist (selbst wenn sie aus Formeln oder per Zufall aus Cut-ups, in Übersetzungsprogrammen oder per Listenerkundung entsteht). Wenn Professionalität heißt, daß man miteinander am Tisch sitzt und ernsthaft miteinander redet, bin ich mit Tristan Marquardt d’accord. Die Bereitschaft und Fähigkeit dazu gibt es, das weiß ich aus vielen handfesten Erfahrungen.
Wenn Marquardt schreibt, es fehle an „neuen, professionelleren Orten für Lyrikkritik sowie an mehr unabhängigen und besser ausgebildeten Rezensent_innen“, dann höre ich heraus, daß es längst eine neue, professionellere Lyrik von unabhängigen, besser ausgebildeten Lyrikerinnen gibt, die nicht entsprechend goutiert und gewürdigt wird. Credo: Die Kritik ist das Problem, nicht die Lyrik. Die ist schon da, der Sachverhalt besteht - allein es fehlt die Rechtssprechung.
Es gibt längst Entwicklungen in diese Richtungen, etwa die Reihe express!, die jetzt bei Fixpoetry angelaufen ist. Gerade zur Buchmesse haben wir bei einem Redaktionsessen noch weitere Entwürfe für neue Formen von Kritik diskutiert. Oder man schaue sich die Seite lyrikkritik an, wo klar die Bereitschaft da ist, unkonventionelle Wege zu gehen, und diese auch begangen werden. Gerade die Foren, die Marquardt als „unprofessionell“ abhakt, tun derzeit mehr für eine Erneuerung und Ausweitung der Kritik, als das Warten auf öffentliches Geld jemals wird erreichen können. Davon abgesehen: Marquardts Sorge um mehr Geld für Rezensenten in allen Ehren.
Es entwickelt sich längst etwas, und viele Autoren entziehen sich, leider leider leider. Sie hätten die Möglichkeit mitzutun, stattdessen ziehen sie sich auf ihre Autorschaft zurück und warten auf die herzeigbare Urkunde: schaut mal, was die SZ schreibt. Lieber klickt man sich durch aktuell maßgebliche Webadressen und hinterlässt hier und da besserwisserische Kommentare, anstatt selber anzupacken und Dinge zu verändern.
Wenn Autoren, die sich vorne sehen, neue Formen von Kritik wünschen, wäre es keine schlechte Idee, den Mut zu haben, diese auch selbst zu schreiben, und zwar in den bestehenden Kanälen, die offen zu halten viel unbelohnten Einsatz und Energie kostet.
Ich finde Marquardts Ansatz nur bedingt stimmig, zu sagen: es gibt die neue Lyrik, aber die Kritik ist ihr nicht gewachsen. Keiner neuen Lyrik ist die breite Kritik wirklich je gewachsen, weil zunächst nicht eingeordnet werden kann, was neuen poetischen Charme hat, auch einer neuen Musik muß das Ohr erst entgegenwachsen. Und eine Bewertung, die wesentlich anders ausfällt als: ja, das ist neu, kann sowieso immer nur aus Persönlichkeiten kommen, nicht aus einem Handwerkskasten. Es sei denn wir sprechen von Kunsthandwerk, das man wie eine Goldschmiedearbeit be- und/oder verurteilen kann. Aber das ist bestenfalls ein Aspekt in jeder Lyrik. Sollte zumindest so sein. Ich weiß, das ist eine Plattitüde, aber es ist ein Fahrwasser, in das aus meiner Sicht weder Lyrik noch Lyrikkritik kommen sollten. Die persönliche Auseinandersetzung mit der Lyrik wird immer am Anfang von jeder Rezension stehen, und wenn es keine Lobeshymnen auf spezielle Lyrik gibt, dann vielleicht, weil sie sich nicht zu der persönlichen Auseinandersetzung eignet, die der nicht spezielle Leser sich erhofft, oder in der persönlichen Auseinandersetzung nicht so begeistert, wie ein Autor sich das erhofft. Was ganz gewiß nicht gegen die Lyrik spricht, aber bitte auch nicht gegen den Rezipienten! Und auch nicht gegen den Rezensenten.
Thema Musik – ich höre privat für mich ganz abstruses Zeug in großer Bandbreite (manchmal drones und manchmal rumänische Doinas) und käme nicht auf die Idee, das mit irgendjemandem in meinem Dunstkreis teilen zu wollen. Ich erwarte nichts. Und ähnlich ist es bei mir mit der Lyrik: ich liebe bestimmte Dinge, die auch sehr abstrus sein können und dürfen, aber ich erwarte nichts, keinen Hitparadenplatz für meinen Favoriten und keinen Zuschuss für meine Liga, weil derjenige, der gute Gedichte schreibt, weder in die Hitparade will, noch einen Zuschuss erwartet, sondern das, was ich auch will: ein gutes Gedicht.
Da man einen Artikel nie mit einer solchen dramaturgischen Volte beenden darf, bemühe ich einen alten Kritikergott, Alfred Kerr: „Der criticus hält es für dumm, ein Gesetzgeber – doch für klug, ein Gesetzfinder zu sein. In dem criticus lebt ein exaktester Anatom. Kein bloßer Impressionist.“ Im besten Fall wird er zum Expressionisten und zeigt auf, was ihm passiert, wenn er liest, und seine Rezension wird zu einem Kunstwerk eigener Gültigkeit. Schließlich ist er genauso Autor, der über seine Leserschaft berichtet. Jedenfalls ist er kein Messdiener und kein Handreicher und wir brauchen die Stolperkanten, die sein Lesen erzeugt, mehr als die sphärengerechten Stufungen der Akademie.
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