Diskurs über die Zeit | Streichend schreiben

Gedichte

Autor:
Anton Pincas, Yves Bonnefoy
Besprechung:
Jürgen Brôcan
 

Gedichte

Über die Zeit und die Linie: Anton Pincas und Yves Bonnefoy in Publikationen der Stiftung Lyrik Kabinett

15.02.2013 | Hamburg

Hohe gestalterische Qualität — also: feines Papier, schöne Umschläge, sorgfältiger Satz und Fadenheftung — zeichnet die von der so unerschrockenen wie unermüdlichen Ursula Haeusgen begründete Schriftenreihe des Lyrik Kabinetts München aus. Die haptische Freude über die Bände wäre indes unvollkommen, wenn sich nicht auch eine intellektuelle zu ihr gesellte, nämlich den Entdeckungen und Bewahrungen dieser Reihe zu folgen. Zu den neueren Veröffentlichungen zählen der in Deutschland noch fast unbekannte israelische Dichter Anton Pincas und der Franzose Yves Bonnefoy, aus dessen umfangreichem Werk seit vielen Jahren, vor allem dank der Bemühungen des verstorbenen Friedhelm Kemp, eine beträchtliche Anzahl Übersetzungen auf Deutsch vorliegt.

Diskurs über die Zeit“ heißt die von Tuvia Rübner — selbst ein begnadeter Dichter — vorgenommene Auswahl aus Anton Pincas’ Werk, in dem es viel weniger abstrakt zugeht, als der Titel zunächst vermuten ließe. Es sind meist melancholische Gedichte aus dem weiten Feld der Erfahrung und des Erlebens. Ihr gemeinsames Motiv ist der Energieabfall, der Wärmeverlust, der Abschied und das Verschwinden des Menschen: „Dein Name bleibt in den Zeitungen unerwähnt, taucht nicht auf in den literarischen Diskussionen, / kein Mensch erinnert sich an deinen Namen.“ Diese Klage ist nicht unbekannt, ihr schales Resümee auch: „Letzten Endes waren es Worte: eine Welle / oder Bewegung, unnotierte Musik, / eine ungedeutete Verbindung von Lauten.“ Diese Worte scheinen den Schreibenden nicht zu überdauern, sie sind nur für ihn selbst, Vergewisserungen des Daseins zu seiner Lebzeit. Aber die Worte, und das ist schließlich ihr Trost, halten die Erinnerung fest, die Flüchtigkeiten der Begegnungen und Reisen, sie sind transitorische Momente in den wechselnden Orten. Zugleich stellt sich Pincas die Frage nach den Möglichkeiten der Dichtung: „Was hinterlasse ich, wenn ich schreibe, / ich möchte Freude hinterlassen?“

Einer solchen Abstraktion setzt Pincas immer wieder die Einzelheiten entgegen. Darin liegt die besondere Stärke der Gedichte: in der erinnernden Heraufbeschwörung der Gerüche, Farben, Schatten, Gegenstände in Zimmern und Menschen auf den Straßen, in den Cafés: „siehe, es gab / nicht wenige Dinge, die im Gedächtnis auftauchten, / an die es nötig war zu denken am Abend, und wenn möglich, / wenn die Zeit dazu reicht, aus ihnen Schlüsse zu ziehen“. Die Gedichte sind jedoch nicht nur Reflexionen des Erlebten, sie zeigen auch ein Suchmuster, vom Erstarrten in die Bewegung, von der Kälte in die Wärme, auch wenn die Orte — vor allem in Ländern des Mittelmeerraums — provisorisch sind. In diese horizontale Bewegung kommt eine vertikale, die ebenfalls nicht stillstehende Zeit, und an ihren gemeinsamen Ereignisrändern geschehen Pincas’ Gedichte, auf der Spur der condicio humana, in großer hymnischer Trauer, die eigentlich zutiefste Freude ist.

Ein viel abstrakterer Raum tut sich in Yves Bonnefoys spätem Gedichtzyklus „Streichend schreiben“ auf. Zwar hatte sich Bonnefoy von frühsten Veröffentlichungen an dem Sonett zugewandt, jedoch keinen so ausschließlich dieser Form verpflichteten Band geschrieben. Welche immense Bedeutung bis hin zur Hinterfragung und Neubewertung bereits vorhanderner Motive „Streichend schreiben“ für Bonnefoys Gesamtwerk hat, haben die Übersetzer Wolfgang Matz und Elisabeth Edl in ihrem präzisen Nachwort erläutert. Vor allem eröffnete die Form einen neuen Kreativitätszugang; die oft als einengend und obsolet empfundene Gestalt des Sonetts eröffnete Bonnefoy einen Großraum für die Imagination, weil es galt, unbeabsichtigte Wiederholungen zu vermeiden, wodurch sich die Worte und Bilder zu einer noch klareren Form herausschälten. Bonnefoy hat oft über den Vorgang des Schreibens berichtet; in diesem Zyklus entstanden jedoch gerade durch den Prozeß des Streichens und Neuansetzens, den eine solche Form erfordert, weitere Bedeutungsebenen, die andere, auch unbewußte, Schichten der Erinnerung freigelegt haben, wie Bonnefoy selbst in der kurzen Vorbemerkung ausführt: „Wenn ich mich nicht für diese Prosodie entschieden hätte, [...] dann hätte es diese Gedichte nicht gegeben, was vielleicht nicht allzu schlimm wäre, aber ich hätte nie erfahren, was mir jemand in mir zu sagen hatte.“

Bonnefoy greift frühere Motive auf, die Zeit und die Erinnerung, die Worte und ihren Trug, die Vergänglichkeit und das Namengeben, das Buch und das liebende Paar, der Traum und die Sprache. Doch stärker als zuvor scheinen sich die physisch greifbare Realität und ihre in Worten aufgehobene Abstraktion aneinander zu reiben. „Stell dir vor, ein großer Spiegel steht / in einem Zimmer. Das Licht vom Fenster / bricht sich darin, verhundertfacht. Das, was es gibt, / wird das, was uns befriedet. Dort draußen // ist wieder neu der Ursprungsort. / Adam und Eva gehen vorüber, die Hände / fassen sich in diesem Zimmer hier“: die Innen- und die Außenwelt nähern sich einander an, verbinden sich für einen Moment, um dann wieder getrennter Wege zu gehen. Beinahe fühlt man sich an das biblische „dereinst von Angesicht zu Angesicht“ erinnert, das für einen epiphanischen Moment versprechend im Spiegel aufblitzt. Zwei Namen soll man den geliebten Dingen geben, sagt Bonnefoy, und die Welt zu zweien schreiben. „Abgetrennt wird die wahre Blume zur Metapher, / ihr rinnender Saft ist die Zeit, / die sich endlich löst von ihrem Traum“, und das bedeutet, die beiden Ebenen des Bewußtseins und der Sprache zu verbinden durch die adamitische Benennung, denn: „Hier benennt das Anderswo“, die Vergänglichkeit aufgehoben in Sprache, aber nicht ausgelöscht, nur leichter, lichter gemacht. — Bonnefoys Gedichte sind einerseits sehr einfach und unmittelbar, andererseits entziehen sie sich dem raschen Verständnis durch rätselhafte Bilder und Anspielungen (z.B. auf Baudelaire und Mallarmé). Eine abschließende Deutung des Zyklus soll und kann deshalb an dieser Stelle nicht erfolgen. Die Linie der Zeile ist die Zeit, die sich im Sonett zum mehrschichtigen Raum entfaltet, offen für die Interpretation.

 

Exklusivbeitrag

Anton Pincas: Diskurs über die Zeit. Gedichte. Ausgewählt und aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen von Tuvia Rübner. ISBN: 978-3-938776-30-8. 15.00 Euro. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2012.

Yves Bonnefoy: Streichend schreiben. Gedichte. Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. ISBN: 978-938776-33-9. 18.00 Euro. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2012.