Gedichte

Die anwesende Abwesenheit der Wörter

23.02.2013 | Hamburg

Blickt man kurz von einem Buch auf, in die Sonne und zurück, erscheinen auf den Seiten oftmals Flecken, kleine, leuchtend helle bis schwarze Verfärbungen innerhalb des Gesichtsfelds, welche die Buchstaben überlagern, färben und die Wörter dadurch unkenntlich machen oder besser: kurzzeitig zum Verschwinden bringen. Sie greifen in den Text ein, trüben ihn und lassen die Ränder aufscheinen, die jeweilige Zeichenpositionierung und angrenzenden Wörter, öffnen Leerstellen und machen so das Fehlende spürbar, bis dann langsam wieder aufklart und sich lichtet, was darunter verborgen lag. Die Lücken füllen sich mit Druckerschwärze, formen sich erneut zu les- und sichtbaren Zeichen, die doch nie abwesend, sondern wohlgeordnet und scheinbar fest verankert an ihrem Platz geblieben waren und an denen eine Ahnung ihrer Materialität haften bleibt. Eine Materialität der Sprache, der Buchstaben, welche durch den ebenfalls entzifferbaren Raum der Buchseiten mitgeschrieben und strukturiert wird, in dem die Zeichen nicht mehr wie in Stein gemeißelt unveränderlich erscheinen, sondern vielmehr eine bewegliche Grundlage bilden, auf der und mit der weitergearbeitet werden kann – »hier zum ersten Mal die Ahnung von Schichten, Sedimenten, möglich auch: vom Gedicht.« Das in den Vordergrund getretene Sprachmaterial bietet so mehr denn je die Möglichkeit, interpretiert, angeeignet, umgeschrieben und aus dem jeweiligen Kontext extrahiert zu werden.


Source: SONNE FROM ORT, Seite 89 Kookbooks Berlin 2012

Um die ostentative Aneignung fremden Materials geht es auch in Uljana Wolfs und Christian Hawkeys – bei kookbooks erschienenem – Buch Sonne from Ort,das in teilweise abweichenden Auszügen zuvor bereits der Sonderausgabe Nummer 30 der Literaturzeitschrift BELLA triste als auch Christian Hawkeys Sonette mit elisabethanischem Maulwurf (hochroth) beilag. Wieder greifen Wolf und Hawkey darin in die zweisprachige Inselausgabe Elizabeth Barrett Brownings Sonnets from the Portuguese ein (die bereits durch die Umschlaggestaltung heranzitiert wird), streichen aus, übermalen und verwandeln sich den Text in seiner Materialität und Gestaltung gewissermaßen an. Man könnte sagen: Sie führen die Übersetzung dieser Liebesgedichte fort, die mit der vermeintlichen Übersetzung aus dem Portugiesischen ins Englische durch Browning ihren Anfang nahm und später von Rainer Maria Rilke ins Deutsche besorgt wurde. In »doppelte[r] Erasureschaft«, wie es Uljana Wolf in ihrem Begleittext Ausweißen, Einschreiben auf karawa.net ausdrückt, bringen sie dabei einen Teil des Sprachmaterials mehr oder weniger mit Tipp-Ex zum Verschwinden um »ein Drittes, Ereignis eines Erinnerns, ein Mehr, eine Mär« entstehen zu lassen. Weder Browning oder Rilke, noch Wolf oder Hawkey allein soll dementsprechend die Autorschaft zugeschrieben werden können, genauso wenig wie Andreas Töpfer, der für die Gestaltung des Bandes und somit die Übersetzung der Tipp-Ex-Bearbeitung in graphische Informationen verantwortlich ist. Gerade bei dieser graphischen Gestaltung ist jedoch das haptisch-sinnliche, palimpsestartig-schimmernde Moment der Erasure-Poetry etwas verloren gegangen und die vorangestellte Legende der graphischen Informationen scheint nicht konsequent auf die Ausstreichungen übertragen gelungen zu sein. Die neu entstandenen Gedichte selbst hingegen öffnen vielmehr Räume, bergen Schichten, in denen einerseits der nicht negierbare Bezug zu den Ausgangsgedichten mitschwingt, andererseits gerade durch die optische Darstellung des angewandten poetischen Verfahrens die Texte in Bewegung gesetzt und andere Lesarten ermöglicht werden. Dennoch ist man dabei teilweise versucht, dieses Verfahren thematisch allzu sehr in die Gedichte hineinzulesen. Dies birgt die Gefahr, manchen Texten eine mitunter unverhältnismäßig erklärende, illustrative Geste zu unterstellen und schließlich einzig darauf zu reduzieren, doch durch die Bedeutungsverschiebung der extrahierten Wörter schaffen es Hawkey und Wolf nach und nach eigenständige Gedichte herauszudestillieren, die weit über den Ausgangstext hinausweisen. Sie wecken sozusagen jene Gedichte, die noch unter der Vorlage schlummerten. Dadurch gelingt es den Beiden gleichzeitig aufzuzeigen, dass sowohl die AutorInnen als auch LeserInnen jeden Text stets aktualisieren, erweitern, verändern können bzw. müssen und dass die Arbeit daran kontinuierlich ist und nicht beendet werden kann, oder um Uljana Wolfs eigene Worte noch einmal zu verwenden: »das Herz des Textes bleibt nicht stehen, es springt.«

 

Exklusivbeitrag

Uljana Wolf, Christian Hawkey: Sonne from Ort. Ausstreichungen/ Erasures, engl./dt. nach den »Sonnets from the Portugese« von Elizabeth Barrett Browning und den Übertragungen von Rainer Maria Rilke. ISBN 978-3937445533. Euro 19,90 -- Berlin kookbooks 2012.

David Frühauf hat zuletzt über »Ich als Text« von Thomas Meinecke auf Fixpoetry geschrieben.