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Stories
Jenseits vom Groschenheftblick hinter die Kulissen von L.A.
Plötzlich gab es Schreie im Kino. „Sangre! Viel Blut!“ Die Beleuchtung ging an. Es stimmte, ich roch Blut. Ich kenne den Geruch, mein Onkel war Geflügelmetzger, und als Kind hatte ich die Aufgabe, die Federn der geschlachteten Hühner zu rupfen. Und dann entdeckte ich, dass das Blut unter Salazars Sitz hervorströmte. Als ich seinen Rücken berührte, kippte er vornüber zu Boden. Aus seinem Nacken ragte ein Messer, wie es Metzger zum Abziehen des Fells benutzen. „Le gusta el pleito, el Filipino“, sagte meine Großmutter immer. Sie war alt, aber ich kann mich gut an sie erinnern, mit ihrem Kneifer, und wie sie Zigarren rauchte, ganz im Stil der Komödiendarstellerin Dona Sara Garcia.
Eigentlich hungert man als Leser danach, mehr Hintergründe dieses mysteriösen Mordes zu erfahren, zumal der Protagonist hernach unter dringendem Tatverdacht steht; doch dabei verzettelt sich die Geschichte etwas in launigen Milieuschilderungen, die das Abschweifen zur Großmutter schon einleiten und die so gar nicht dazu passen, dass da ein Mord passiert ist, der Held nachdrücklich observiert wird und sich fortgesetzt vor der Polizei versteckt hält; da entrollt sich beiläufig in fröhlichem Sermon eine ganze Reihe von Anekdoten, da werden unermüdlich und munter berichtähnliche Details über Straßen und Bezirke eingewoben. Der Text verläppert zunehmend in minutiösen Schilderungen von Verwandtschaftsverhältnissen, die zwar hochmotiviert die ganze Komplexität der Situation entlarven wollen, in der sich der Protagonist Arturo Manzano befindet, aber diesen Anspruch nicht annähernd umsetzen. Als ich am Morgen nach dieser schrecklichen Nacht aufwachte (…), setzt dann die Erzählung fort. Genau hier findet der Bruch statt: Das passt nicht mehr zu dem Tonfall des Einschubes; man hat ja schon fast vergessen, dass Arturo auf der Flucht ist. Außer dass einem klar wird, wie extrem verfilzt im geschilderten Barrio die Verhältnisse sind, wo jeder jeden kennt und dass der Polizeichef als „Mex“ im mexikanischen Bezirk genauso in alles verstrickt und auch nur einer von den „Kleinen“ ist, dem übel mitgespielt wird, ist die Funktion der aus dem Text herauswuchernden Anekdoten nicht so recht klar. Das ist einerseits geistreich und unterhaltsam und zeigt das Talent Cooders zum Romancier, mindert andererseits in etlichen Fällen die Spannung und strapaziert die Geduld des Lesers. So wird die Geschichte zum Ende hin immer komplexer und bremst durch ihre Detailgenauigkeit den Hauptstrang der Erzählung aus. Man erfährt gar nicht, wer der Mörder war, weil es immer mehr nur noch um das Lebensgefühl geht, das sie alle verbindet und das sie alle empfinden, der Polizeichef genauso wie sein Verfolgter: dass alle Verlierer sind und niemand an nichts schuld ist. Morales leert zum Schluss mit dem Helden Manzano irgendeinen Fusel aus dessen Flachmann. – Eine Pointe?
Der Pianist Billy Tipton war grade in der Stadt angekommen und man durfte davon ausgehen, dass das 'ne heiße Sache werden würde – der Live-Auftritt einer bekannten Persönlichkeit in einem verschnarchten Kaff wie Kingman! Die Erzähler switcht in den Geschichten oft hin und her, mal göttergleich von ganz oben, mal aus Sicht des Helden von ganz unten, was bedeutet, dass oft nicht so ganz klar ist, wer da jetzt spricht. Einsfünfundneunzig groß, schmal und so hart wie'n Telefonmast. Der Erzähler wertet und mischt sich ein, ist Teil der Geschichte, wechselt vom Icherzähler flugs zum Auktorialerzähler, der alles weiß und alles überblickt; die einzelnen Passagen wirken oft wie aus Schnipseln montiert, haben keine durchgängige Erzählhaltung. Manchmal berichtet der Erzähler aus extremer Distanz, während er gleich darauf wieder im Slang redet und sich sogar, ganz wie seine Figuren, zu Vulgärsprache hinreißen lässt. Die Erzählerrede wird mit einem Mal zur Figurenrede. Wenn man diese Geschichten liest, die alle chronologisch geordnet mit Jahreszahlen durchdatiert sind, wahrscheinlich um den autobiografischen Gehalt darin zu unterstreichen, ist das schillernde Ich darin – so möchte man glauben – der junge Ry Cooder selbst, der mehr oder weniger ausschmückend darin Erlebnisse seiner Jugend verarbeitet – allerdings um einige Jahre zurückdatiert. Die Geschichten spielen zwischen 1940 und 1950.
Ry Cooder, geboren am 15. März 1947 im kalifornischen Los Angeles, heißt eigentlich Ryland Peter Cooder und ist ein US-amerikanischer Gitarrist, Komponist und Produzent. Seine weltweite Bekanntheit verdankt er in erster Linie seinem Spiel als Slide-Gitarrist. Anfangs Rockgitarrist im Studio bei den Rolling Stones spielte er bei Taj Mahal und Captain Beefhearts Magic Band, wandte sich später mehr dem Louisiana Stil und Country zu, bevor er 1970 damit begann, eigene Platten aufzunehmen, darunter Cover-Versionen von Randy-Newman-Songs. Ry Cooder war eine Ikone von Wim Wenders und Sam Shepard. Sein literarisches Debüt wurde von Franz Dobler ins Deutsche übersetzt.
Wie allgemein bekannt, sind Hotels in Hinterwäldlerstädten so nett wie ein juckender Arsch. Das ist Groschenheft-Sound und das meine ich durchaus positiv. Nichts Gespreiztes, kein affektiertes Gerede, keine gekünstelten Dialoge in Hochsprache: Hommage und Anleihe an Krimis (Raymond Chandler u. a.) der 1940er und 50er Jahre. Es wird nichts geschönt, keine Stars, kein Glamour, dafür sehr urige Milieuschilderungen. Krumme Gestalten treffen sich in billigen Kneipen, Tankstellen, Motels. Anfangs schien es mir ein Buch zu sein, das mir als Heranwachsender bestimmt vorzüglich gefallen hätte, gerade aufgrund der etwas kernigen Sprache, denn hier finden nirgends langatmige Dialoge ohne Inhalt statt, à la „Grüßen Sie bitte Ihren Großvater von meinem Großvater“ oder „Cheri, was für ein schöner, lauer Abend, nicht?“ Stattdessen sprechen die Leute direkt, unverblümt und zeigen in jedem Wort, wie tief sie „drinstecken“. Die Leute sind genauso in ihrer Einfachheit (um nicht zu sagen Eindimensionalität) vorstellbar. Keiner von ihnen muss sich durch Bildung profilieren oder seinen prätentiösen Lebensstil zeigen – im Gegenteil. Und wenn, dann wird in Szenen, die vermutlich in Beverly Hills spielen, schonungslos hinter die Kulissen geblickt. Es hält „die harte Realität“ Einzug, schockiert ab und zu mit überraschenden Details und erinnert immer wieder an Toni Morrisons Prosa, gerade, was die durchgängig sehr atmosphärischen Milieuschilderungen samt ihrem Personal angeht. Ein Grund, warum die Stories oft ein wenig unübersichtlich werden, sind die vielen Personen, die nach und nach die Geschichte bevölkern und die noch dazu oft mehrere Namen haben. Auch wird jedes Mal minutiös beschrieben, an welcher Straßenkreuzung in Los Angeles ein Ereignis stattfand. So sehr Ry Cooders kurzen, prägnanten Instrumentals wie Nothing Out There oder Dark Was The Night, die komplett ohne perkussive Elemente auskommen (weil sie selbst auch durch ihren starken Anschlag Perkussion sind), eine unnachahmliche Spannung inne ist, die durchgängig gehalten wird, so sehr passiert es in seinen Stories immer wieder, dass durch Nebenstränge und Abschweifungen die Spannung etwas einschläft.
Es geht viel um Musik, um Musikszene und um das Leben kleiner Musiker, die sich mit ihrer in der Familie vererbten Gitarre ihr Brot verdienen, die von Gitarren träumen, die sie sich nie leisten können, und dieses Leben ist hart. Die Bigsby mit den drei Griffbrettern – der Heilige Gral unter den Steelgitarren. Das einzige Instrument, das jeder haben will, ist jedoch der Preis, den nur wenige je erringen können. Dass es einem Durchschnittstypen wie mir gelingt, hat keiner je gehört.
Man spürt, wie die Erzählungen sich mit ihrem Stil an den Vorbildern der American Beat Poetry reiben: darin wirken sie manchmal auch wie ein zweiter Aufguss, denkt man z. B. an Kerouacs Kurzgeschichten. Man hat auch das Gefühl, dass der Übersetzer gerne die etwas derberen Stellen noch unterstreicht. Die Erzählung Boogie, Ufos und Gewehre beginnt mit schnellen, „schrottigen Autos“ und der Beschreibung einer abgesägten Schrotflinte. Mike näherte sich dem Auto, es war ein violettes 49er-Ford-Cabrio mit Lake Pipes-Doppelauspuff und Hollywood Spinner-Radkappen. Der Erzähler ist bemüht, immer möglichst cool und gleichzeitig dreckig zu klingen, obendrein sind die Schilderungen dicht und eigentümlich düster; sie erinnern – neben sehr lichten Momenten, wo sie satirische Anklänge haben – an Szenen aus dem Film Noir. Hier hat Franz Dobler in seiner Übersetzung wohl das herausgeholt, was herauszuholen war. Ein Glossar gibt Erklärungen zu den inhaltlichen Zusammenhängen. „Einige dieser Stories arbeiten mit Personen, die gelebt haben“, ist hier zu lesen.
Und so sind diese Stories, genau wie Cooders Musik, die gleichzeitig leicht und schwer ist, hell und düster, ebenso leicht und schwer, einfach und komplex, rau und glatt, seicht und tief zugleich. Sie sind widersprüchlich: echt und artifiziell, langatmig und kurzweilig, klischeehaft und differenziert. Eins steht fest: sie erwischen einen beim Lesen immer auf dem falschen Fuß. Sie tun immer das, was man nicht erwartet: darin sind sie sehr vorhersehbar.
Wer nun musikalisch auf den Geschmack gekommen ist, kann hier in 100 Songs von Ry Cooder reinhören.
Exklusivbeitrag
Ry Cooder, In den Straßen von Los Angeles, aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Franz Dobler, Critica Diabolis 195, Broschur, 288 Seiten, 18,- Euro, ISBN: 978-3-89320-164-8. Edition TIAMAT, Berlin 2012
Armin Steigenberger hat zuletzt über »a fool’s journey« von Ruth Weiss auf Fixpoetry geschrieben.