Die Liebe im Ghetto

Aufgeschrieben und mit einem Vorwort von Paula Sawicka

Autor:
Marek Edelmann
Besprechung:
Rainer Strobelt
 

Aufgeschrieben und mit einem Vorwort von Paula Sawicka

Quelle für das Überleben. »Die Liebe im Ghetto« von Marek Edelmann und Paula Sawicka

10.05.2013 | Hamburg

In ihrem Vorwort zu „Die Liebe im Ghetto“ bezeichnet es Paula Sawicka (Psychologin, Dozentin, seit 2004 Vorstandsvorsitzende der „Gesellschaft Offene Republik“) als ein Glück, seit gemeinsamen Solidarność-Jahren Marek Edelmans (1921-2009) Freundschaft würdig und auf diese Weise Jahrzehnte lang Adressatin seiner Berichte über den Warschauer Ghettoaufstand (April/Mai 1943) sowie den Warschauer Aufstand (August-Oktober 1944) gewesen zu sein.

Sawicka hat das Buch so strukturiert, dass Auftakt- und Schlusskapitel öffentliche Vorträge Marek Edelmans wiedergeben; im Hauptteil dann zwölf, meist episodisch dargebotene Einzeldarstellungen zum Thema, Resultat der Angaben Edelmans aus dem Jahre 2008.

Was verstehen nun Edelman/Sawicka unter „Liebe“? Natürlich neben anderem den unaufhaltsamen Zug von jungem Mann zu junger Frau, junger Frau zu jungem Mann, aber eben, und das bestimmt jede Manifestation von Liebe im Ghetto, in ansonsten liebeswidrigster Umgebung: Der Junge, der am Umschlagplatz eine Hand zwischen den Bauch seiner schwangeren Freundin hält und den Feuernden; schon ist doch alles zerfetzt. Aber: „Im dunklen Treppenhaus stand ein Schatten. Er berührt die Gestalt und spürte zwei dick geflochtene Zöpfe. Er und die Gestalt umarmten sich und gingen in den ersten Stock. Den ganzen Krieg über blieben sie dann zusammen.“

Edelman, später mit einem Namen als Kardiologe, müsse sich anstrengen, um sich an Beispiele von Liebe im Ghetto unter älteren Menschen zu erinnern, da er fast immer von bis zu Zwanzigjährigen umgeben gewesen sei; doch natürlich, da ist die jüdische Mitgefangene fortgeschrittenen Alters, die Edelmans Fluchthilfeangebot dankend ablehnt: „Und da sah ich sie und diesen Herrn, dessentwegen sie geblieben war. … Er stand da und hielt sie an der Hand.“

Diejenige Liebe aber, die sich nach Edelman vornehmlich eitel darstellt, habe das Zusammenleben im Ghetto erschwert und trifft folglich auf seine eher ironische Erwähnung. Über eine medizinische Hilfskraft und Kurierin heißt es: „Eines Tages explodierte direkt neben ihr eine Granate und verwundete einen Soldaten schwer. Sie nahm sich seiner an und verliebte sich natürlich gleich in ihn. Sechs Wochen lang kümmerte sie sich um seine Wunden am Kopf und hielt sich für eine große Ärztin, weil sie vorher im Krankenhaus gearbeitet hatte. … Unsere naive Kurierin sagte später, es habe sich gelohnt, das Ghetto und den Warschauer Aufstand zu durchleiden, weil sie jetzt wisse, was Liebe ist und wie viel man einem anderen geben kann. Als er starb, übertrug sie ihre ganze Liebe auf ihren Sohn, für den diese Liebe sehr belastend war.“

Aber vor allem ist für Edelman Liebe überhaupt diejenige Kraft, die den Bestand des Lebens sichern hilft, die in einem Meer von Gewalt ab und an Ahnung von Licht und Zukunft ermöglicht.

Die Person Edelman selber, damals Anfang Zwanzig (schon vier Jahre später wird er seinen Bericht „Das Ghetto kämpft“ verfassen), spiegelt diesen Facettenreichtum der Liebe im Ghetto wider, die Liebe dabei nach ihrem Gewicht für die Überlebenschancen betrachtend, indem er also durchaus wertet: Zärtlichkeit, Leidenschaft ja, aber nach Möglichkeit gepaart mit Kontrolle, mit Verschwiegenheit, dabei hinsichtlich der Bedeutung eines Kombattanten im Wesentlichen nicht zwischen männlich und weiblich unterscheidend. Hinsichtlich seiner herausragenden Mitkämpfer in der jüdischen Widerstandsorganisation ŻOB, nämlich Yitzhak/Icchak („Antek“) Zuckerman/Cukierman  und seiner Frau Zivia/Cywie („Celina“) Lubetkin heißt es im Buch: „Antek  führte keine Gespräche, er schmiegte sich nur an Celina, suchte bei ihr Kraft und Wärme.“ Aber Celina, die Frau, war es, an der Edelman das Nüchterne, Sachliche besonders beeindruckte und der er seine Ghettoliebe schenkte: „Celina war mir … die beste Freundin. Sie verstand mich und mein Handeln. Wie oft gab sie mir Recht und nicht Anteks romantischen Visionen. Innigere und treuere Freunde kann man nicht haben!“

Liebevolles Umgehen in den Jahren des Warschauer Ghettos (ab 1940) manifestierte sich für den jungen Edelman, wie in diesem Buch dokumentiert, hauptsächlich in den vielen kleinen und großen Absprachen der jüdischen Zivilbevölkerung und ihren Widerstandsanführern, den Übereinkünften und ihren immer lebensgefährlichen Umsetzungen aus Solidarität und beinahe unheimlichem Verantwortungssinn heraus, Taten, die den todbringenden „Aktionen“ der Nazis so verzweifelt fest und, vom Ergebnis her, meist aussichtslos entgegenstanden.

So ist Edelman, dem lebenslang um Prinzipientreue Bemühten (nach 1945 galten seine Humanität einfordernden Aktionen u.a. Vietnam, Ruanda, Kambodscha, Jugoslawien, der Solidarność-Bewegung - Andreas Mix nennt Edelman in der FR vom 20.4.2013, von mancher Warschauer Regierung aus gesehen, einen „unbequemen Zeitzeugen“ -) Liebe, Menschenliebe selbst zum Synonym für Leben geworden. Sein zukunftsoffener Blick ließ ihn – und damit endet Sawicka ihre Aufzeichnungen – 1995 optimistische Horizonte aufzeigen in einem gemeinsamen Eintreten gegen das Gewährenlassen, gegen die Hypnose durch den Faschismus und die Angst davor (Edelmann bezeichnet übrigens als die „Ursünde der Unterlassung“ „das Schweigen …, als Hitler das Saarland besetzte“):

„Wenn wir heute diese Angst in uns nicht bekämpfen, dann werden wir es weiterhin mit Terrorismus und Völkermord zu tun haben. … Und wer kann das leisten? In den letzten fünfzig Jahren hat die Jugend schon ein paarmal bewiesen, dass sie dazu fähig ist. Sie zeigte es in den Vereinigten Staaten, indem sie zum Ende des Vietnamkriegs beitrug, sie zeigte es 1968 in Frankreich, als sie den Lebensstil veränderte. Das Gleiche machte die deutsche Jugend. Seit dieser Jugendrevolte hat sich etwas verändert, sie hat also etwas bewirkt. Wir dagegen sind eine verlorene Generation. Man muss nur der Jugend wieder beibringen, dass das Erste und Wichtigste das Leben ist, erst danach kommt die Bequemlichkeit.“

Die Übersetzung aus dem Polnischen hat Joanna Manc gut ausgeführt. (Die Wiedergabe des polnischen Straßennamen „Straße des Mickiewicz“ sollte allerdings Mickiewicz-Straße lauten und nicht die polnische Genitivendung -a mit übernehmen.)

Für den Leser gute Hilfe bieten zwei vergleichende Ghetto-Lagekarten sowohl vorn als auch hinten im Buch; das Vorwort von Paula Sawicka; ein biographischer Anhang von 22 Seiten sowie ein Anhang „Bibliographie“, in welchem Sawicka (selbstverständlich) auch Titel von Hanna Krall anführt, die ja ebenfalls Gespräche mit Marek Edelman geführt und dokumentiert hatte.

Der Schöffling-Verlag hat mit dem Titel „Die Liebe im Ghetto“ ein äußerlich schönes Buch (ansprechender Umschlag, dazu ein Lesebändchen) hergestellt sowie recht schnell nach dem polnischen Original (2009) auch dem deutschsprachigen Leser diesen Bericht zu einem nur scheinbar paradoxen Spezialaspekt eines hochwichtigen Ereignisses zur deutschen, zur jüdischen, zur polnischen Zeitgeschichte vorgelegt.


Exklusivbeitrag

Marek Edelmann und Paula Sawicka: Die Liebe im Ghetto.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc. (Gebundene Ausgabe, Lesebändchen) ISBN 978-3-89561-418-7, EURO 18,95 Schöffling & Co Frankfurt am Main 2013

Rainer Strobelt hat zuletzt über »VERSschmuggel/WERSszmugiel» herausgegeben von Aurélie Maurin und Thomas Wohlfahrt auf Fixpoetry geschrieben.