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Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867-1922
Industrieller, Autor, Politiker – Shulamit Volkovs Buch über die ambivalente Persönlichkeit Walther Rathenaus
10.08.2013 | Hamburg
Ein verbreiteter Irrtum deutscher Juden im 19. Jahrhundert war die Annahme, durch besonders leidenschaftlichen Patriotismus die Integration in die Gesellschaft des Kaiserreiches vollenden zu können. Darum meldeten sich im Sommer 1914 überdurchschnittlich viele Juden als Freiwillige zum Kriegseinsatz. Entsprechend groß war nach dem Ersten Weltkrieg, in den 1920er Jahren, vor allem aber nach 1933, der Schock über gewalttätige antijüdische Exzesse in Deutschland. Hatte man nicht wenige Jahre zuvor für Deutschland gekämpft? Hatte man nicht für das gemeinsame Vaterland gelitten, und waren nicht die eigenen Verwandten sogar dafür gestorben? Exemplarisch nachlesen lässt sich derlei verwunderte Ungläubigkeit in den Tagebüchern des hochdekorierten Kriegsfreiwilligen Victor Klemperer. Seine im Ersten Weltkrieg erworbenen militärischen Auszeichnungen bewahrten den Romanisten nicht vor Berufsverbot und Verfolgung, die er, dank seiner nichtjüdischen Frau, nur knapp überlebte. Wie Klemperer erging es tausenden deutschen Juden. Nicht wenige bezahlten das Vertrauen in die für Deutschland gebrachten Opfer mit dem Leben, weil es sie von einer Flucht, zu einem Zeitpunkt, als dies noch möglich gewesen wäre, abgehalten hatte.
Rechtlich mit den anderen Konfessionen gleichgestellt waren die Juden im Norddeutschen Bund seit 1869, gesamtdeutsch seit 1871. Als erster Staat hatte das liberale Großherzogtum Baden den Juden knapp zehn Jahre zuvor, 1862, die uneingeschränkte Gleichberechtigung gewährt. Das bedeutete freilich nicht, dass den Juden im wilhelminischen Deutschland fortan alle Türen offenstanden. Beim Militär und auch in der Wissenschaft war ihnen der berufliche Aufstieg, von Ausnahmen abgesehen, weitgehend verwehrt. Nur vereinzelt schafften es Juden in einflussreiche Positionen, wie beispielsweise Gerson von Bleichröder, der als Bankier Bismarcks in die Geschichte einging.
Ein anderes Beispiel ist Walther Rathenau, dem die israelische Historikerin Shulamit Volkov nun eine Biografie gewidmet hat. Es ist dies nicht das erste Buch über Rathenau. Lothar Gall hat vor einigen Jahren ein umfassendes Werk über den Industriellen, Schriftsteller und Politiker in Personalunion vorgelegt. Von den Zeitgenossen hatte sich bereits Harry Graf Kessler, heute eher als Tagebuchschreiber bekannt, an einer Lebensbeschreibung des einstigen Reichsaußenminister versucht, der im Juni 1922, nach nur fünf Monaten im Amt, von rechtsextremen Attentätern ermordet wurde.
Dass Rathenau bei denen, die ihn kannten, sonderlich beliebt war, kann man nicht behaupten. Das galt auch für die Bekannten, die antisemitischer Ressentiments unverdächtig waren. Etwa Graf Kessler, den nervte, dass Rathenau immerfort wie ein „Pastor oder Rabbiner“ spreche, „nie unter einer Viertelstunde, Ansprachen statt Antworten; und wenig Inhalt: meist Dogma.“ Auch Hugo von Hofmannsthal störte sich an der herablassenden Art Rathenaus. Er habe, so Hofmannsthal, „in seinem ganzen Leben niemanden gekannt, in dessen Gegenwart er sich so gänzlich leer fühle“. An anderer Stelle erklärte Hofmannsthal, seine Ablehnung Rathenaus beruhe darauf, dass dieser „eine Art von Nichts sei, ein Gebilde aus lauter Pose, an das sich nirgends eine wirkliche Beziehung knüpfen lasse.“ Wenig schmeichelhaft äußerte sich auch der Kritiker Alfred Kerr, der Rathenau als „Diogenes der Großindustrie“ bezeichnete. Andere gängige Spottnamen waren „Jesus im Frack“ und „Prophet im Smoking“.
Die Ambivalenz der Rathenau’schen Persönlichkeit blieb den Zeitgenossen nicht verborgen.
Als roter Faden zieht sie sich durch Shulamit Volkovs Buch.
Obwohl selbst Jude, der, anders als viele Zeitgenossen, nie konvertierte, begann Rathenau seine schriftstellerische Laufbahn mit einem antisemitischen Frontalangriff. Er warf den deutschen Juden vor, unfähig zu sein, sich zu assimilieren, was sie zu einem „fremde[n] Organismus“ am „Leibe [des Volkes]“ mache, „[a]uf märkischem Sand eine asiatische Horde“.
Beruflich führte Rathenaus Weg in die vom Vater Emil Rathenau gegründete „Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft“ (AEG), die in den 1880er Jahren neben Siemens zum führenden Elektrokonzern in Deutschland aufgestiegen war. Eine schnelle Karriere im Unternehmen war ihm gewiss. Mit kurzen Unterbrechungen war Rathenau zeit seines Lebens in führender Position bei der AEG tätig. Das jedoch hielt ihn nicht davon ab, aus intellektuell-ästhetischen Gründen mit seiner Industrietätigkeit, die er selbst bisweilen als Bürde anzusehen schien, zu hadern. Die Zwiespältigkeit ging so weit, dass Rathenau im Ersten Weltkrieg öffentlich gegen den U-Bootkrieg wetterte, während die AEG, der er als Präsident und Aufsichtsratsvorsitzender vorstand, glänzend am Bau und an der Bewaffnung der U-Boote verdiente.
Noch im Frühjahr 1918, als der Krieg für Deutschland bereits verloren war, forderte Rathenau im für ihn typischen prophetischen Duktus die Fortsetzung des Kampfes. Der Krieg werde, so seine Begründung, trotz seiner grausamen Seite, „im Namen der Gerechtigkeit und Freiheit, zur Sühne der Menschheit und zur Ehre Gottes“ geführt. Sehr zum Entsetzen seiner Industriekollegen trat er zudem dafür ein, die Wirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen, da diese in Kriegszeiten nicht länger Privatangelegenheit sei, sondern „Sache der Gemeinschaft“. Weiterhin schwebte ihm eine Gesellschaft vor, die dem Materialismus, dem Luxus und der „Vergnügungsgier“ entsage, und stattdessen zu einem wahrhaften „Volksstaat“ erwachse.
Dass das alles nicht so recht zusammenpasste, erkannten auch die Zeitgenossen. Sie bezweifelten Rathenaus Aufrichtigkeit und warfen ihm Opportunismus vor. Und auch Volkov, die sich eher auf die Darstellung als auf die Bewertung konzentriert, erscheint hier bisweilen überfordert vom erratischen Aktionismus Rathenaus, dem es vor allem während des Ersten Weltkrieges an gedanklicher Kohärenz mangelte.
Rathenaus historische Stunde schlug nach dem Krieg. Nachdem es zunächst nicht so ausgesehen hatte, als wären seine politischen Ambitionen von Erfolg gekrönt – die liberale DDP hatte sein Ansinnen abgelehnt, ihn als Kandidaten für die Nationalversammlung aufzustellen –, wurde er 1921 vom Reichskanzler Joseph Wirth zum Wiederaufbauminister ernannt. Er hatte sich in den Verhandlungen mit den Alliierten über die Höhe der deutschen Reparationszahlungen bewährt. „Dies“, so schreibt Volkov, „war der Wendepunkt in Rathenaus Leben“. Keine philosophischen Aufsätze mehr, keine kruden „Spekulationen über die Transzendenz“ oder zur Lage der Nation. Stattdessen fand Rathenau seine Rolle als Realpolitiker der Nachkriegszeit, der mit den Siegermächten und allen voran Frankreich eine für alle Beteiligten annehmbare Nachkriegsordnung bauen wollte. Als klar wurde, dass dies nicht funktionierte, entwickelte Rathenau mit der sogenannten Erfüllungspolitik eine neue Strategie. Mit ihr wollte er die Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft erreichen. Um den Druck auf die Westmächte zu erhöhen, verhandelt er, mittlerweile als Außenminister, im italienischen Rapallo mit der Sowjetunion ein Abkommen, in dem die beiden Verlierermächte des Ersten Weltkrieges auf jegliche gegenseitige Reparationsforderung verzichteten und eine wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit anstrebten.
Rathenau selbst bewertete das Ergebnis von Rapallo durchaus zwiegespalten. Doch hatte er wegen der drohenden Isolierung Deutschlands keine andere Möglichkeit gesehen; außerdem bezweifelte er mittlerweile die Wirksamkeit der Erfüllungspolitik. Für Konsequenzen war es aber bereits zu spät. Seinen zahlreichen Feinden auf der politischen Rechten lieferte Rapallo die Bestätigung, dass Rathenau nun sogar mit den verhassten Bolschewiken paktierte. Am 24. Juni 1922 erschossen zwei Attentäter der „Organisation Consul“, der Gruppierung, die bereits für die Ermordung von Matthias Erzberger verantwortlich war, Rathenau auf seinem Weg ins Auswärtige Amt.
Volkovs Rathenau-Biografie ist das unverblümte Portrait eines von Eitelkeit getriebenen Flaneurs zwischen Industrie, Literatur und Politik, der erst spät seine Berufung fand, und diese am Ende mit dem Leben bezahlte. Lesenswert wird das Buch vor allem aufgrund der Klarheit, mit der diese unterschiedlichen Facetten der Persönlichkeit Rathenaus offengelegt werden.
Shulamit Volkov: Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland. Aus dem Englischen von Ulla Höber. ISBN 978-3-406-63926-5 22,95 € C.H. Beck München 2012.
Florian Keisinger hat zuletzt über »Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort Zu Ort« von Ned Beauman auf Fixpoetry geschrieben.
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