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Roman
Eine eigenwillige Freundschaft in der Transsibirischen
23.08.2013 | Hamburg
Die Ausgangssituation ist simpel: Eine finnische Archäologiestudentin, die in Moskau lebt, fährt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Ulan-Bator, um dort eine antike Felsinschrift zu sehen. Ursprünglich wollte sie die Reise mit ihrem Freund Mitka unternehmen, jedoch der hat die psychiatrische Anstalt dem Kriegsdienst in Afghanistan vorgezogen. Anfang der 1980er Jahre existiert die Sowjetunion noch, jedoch der Verfall ist bereits erkennbar.
Dann fährt der Zug ab. Die junge, namenlose Frau wird das Abteil die nächste Woche mit einem kräftigen Mann mit Kohlblattohren teilen. Er redet, sie schweigt konsequent. Dennoch wird die Geschichte aus ihrer Sicht erzählt, sie äußert keine Gedanken, beobachtet und registriert, hält ihre Gefühle im Hintergrund, jedoch nimmt sie Bilder und Gerüche wahr, die nach Zigaretten riechende Leselampe, verkohltes Eisen und ofenfrischen Strahl in einer Großstadtnacht, als die Lokomotive getauscht wird, was längere Zeit in Anspruch nimmt, und sie die Nacht in einer Herberge verbringt: Eine von mehreren Unterbrechungen der Reise. „Der Schnee roch nach Frühling.“ Sie begegnet zwei Männern, „der eine dünstete Harz aus, der andere starken Wein, und beide rochen nach Elend.“ Und „über allem liegt der Geruch von verdorbenem Fisch.“
Zwischen dem Mann und der Frau entwickelt sich eine eigenartige Beziehung. Er säuft Wodka, den sie verweigert, liest ihr aus der Zeitung vor, blättert sein Leben vor ihr auf. „Ich liebe dieses Land. Amerika ist ein von Gott verlassener Misthaufen.“ Er schimpft und flucht. Sein Messer benützt er als universelles Werkzeug. Damit hatte er einen Menschen erstochen und dafür im Gefängnis gesessen. Das Leben nimmt er, wie es ist und wie es kommt. Erlebt hat er so manches. Einen seiner Freunde hatten die Mongolen, nachdem er einen von ihnen ermordet hatte, gekreuzigt und ihm flüssiges Blei in die Kehle gegossen. „Die Freunde vergaß man, die Trauer und die Dummheit jedoch nie.“ Von Erschießungen und Misshandlungen, von Weibergeschichten und Sex ist die Rede. Immer wieder versucht er, sich an die junge Frau ranzumachen, akzeptiert allerdings ihre Verweigerung. Auch sein Ziel ist Ulan-Bator, um auf einer Baustelle zu arbeiten. Schließlich wird er die junge Frau zu den Felsinschriften führen, was ihr ohne ihn nicht gelungen wäre. Zum Abschied schenkt er ihr seinen wertvollsten Besitz: das Messer.
„Weißt du, warum der Mensch länger lebt als die meisten Tiere? Das kommt daher, dass die Tiere nach ihrem Instinkt leben und keine Fehler machen. Wir Menschen hingegen verlassen uns auf den Verstand und bauen ständig Mist. Unser halbes Leben geht für Schnitzer drauf, ein anderer Teil dafür, dass wir die größten Dummheiten erkennen, und der Rest für den Versuch zu retten, was zu retten ist.“
Fazit: Ein Roman randvoll mit Geschichten, ebenso poetisch wie handfest, und zugleich ein Abbild der Sowjetunion in den 1980er Jahren.
Rosa Liksom: Abteil Nr. 6. Roman. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. 217 Seiten; ISBN 978-3-421-04583-6; € 14,99; Deutsche Verlagsanstalt, München 2013
Manfred Chobot hat zuletzt über »Tango-Kontinuum. Von Machos, Malevos und Vermaledeiten« von Lidio Mosca-Bustamante auf Fixpoetry geschrieben.