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Prosa
Im Wandel der Perspektiven - Giwi Margwelaschwili und seine vergnüglichen Textontologien
Ein alter Leser ist über der Lektüre eines Gedichts gestorben: Frohgemut ist er in eine „poetische Landschaft“ eingetaucht, hatte sich darin verloren, verlesen, möchte man sagen, und „als er dann wieder umkehren wollte, war der Wald um ihn herum plötzlich sehr dicht, fast undurchdringlich dicht geworden“. Der Mann leistet auch keinen Widerstand, ja er zieht den dichterischen Gegen-Kosmos der Wirklichkeit vor – tief genug hat er sich hineinbegeben, um zu wissen, dass es in den drei Strophen hier behaglicher und vor allem spannender ist als im Himmel, in welchen er, der in der Realwelt Gutes tat, kommen würde. Soviel verrät der Nachlass des Lesers.
Genug, um den Fall einer Kommission der „Buch- und Versweltverwaltung“ zu übergeben, dem Ich- oder Wir-Erzähler aller sieben Geschichten in dieser bislang zweiten erschienenen Sammlung von Giwi Margwelaschwilis unterhaltsamen Erzählungen.
Die Protagonisten der titelgebenden Geschichte, also die Buch- und Versweltverwalter, legen das betreffende Gedicht erst einmal unter Glas wie einen Schmetterling, um es zu untersuchen. Wird sich der Geist des toten Lesers darin zeigen? Den komplizierten Messungen bringt das Publikum großes Interesse entgegen. Leider hat es lieber Kommentare zum Forschungsfortgang als den Gedichttext selbst, wie Margwelaschwili bedauert. Denkt er an literaturwissenschaftliche Abhandlungen, die keine Auseinandersetzung mit dem Primärtext, sondern Auseinanderdividieren von Sekundärschriften leisten? Oder an Bestseller-Rankings, die das Publikum länger studiert als irgend ein Buch?
Im ersten Text des Sammelbands, „Auf den Bergen des Herzens“, wird die Agenda der Alpin-Abteilung der Gedichtweltverwaltung beschrieben. Sie ist dann zuständig, wenn Lyriker sich zu weit hinaufwagen und beim Anstieg auf den „Gipfel der reinen Verweigerung“ im „Herzgebirge“ in Bergnot geraten. Dieses Massiv spielt weniger auf das real existierende Erzgebirge an als an Rilkes „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“, eines von dessen letzten Gedichten, ein Kunstgebirge, aufgeschichtet aus Reimen. Margwelaschwili greift einige Motive und Metaphern für seine Beschreibung der Dienstpflichten dieser Bergwacht heraus – ohne dabei jemals zu manieristisch, haarspalterisch oder naseweis zu werden.
Sein Stil präsentiert sich stattdessen auffallend zugänglich, und seine Erzählung überrascht mit Schlüssen, die erfrischend wirken. Man muss nicht wissen, dass den kleinen Geschichten ein solides philosophisches Fundament zugrunde liegt. Bei aller Postmoderne sind Margwelaschwilis Texte aber immer auch experimentell: Sie erforschen den Wandel der Perspektiven und Einflussnahmen zwischen Leser und Text.
Infolge von Giwi Margwelaschwilis „Ontotextologie“ – ein aus „Intertextualität“ und „Ontologie“ derivierter Begriff – nimmt sich die Denkautorität des Lesers die Gedankenfreiheit, bekannte Geschichten umzustellen. Der festgehaltene Verlauf kann zwar nicht geändert, doch Nebenfiguren emanzipiert oder vom jeweiligen Autor nicht beschriebene Umstände nachträglich geschaffen werden.