Vom Tod eines alten Lesers

Prosa

Autor:
Giwi Margwelaschwili
Besprechung:
Ute Eisinger
 

Prosa

Im Wandel der Perspektiven - Giwi Margwelaschwili und seine vergnüglichen Textontologien

Diese intrikaten Kommunikationsmodelle bringt Margwelaschwili in witzigen Geschichten vor. Sie sind von einer Verspieltheit, die der deutschen Literatur ansonsten abgeht: Wie zu Anfang der Postmoderne der argentinische Bibliothekar Borges Bücher mit Büchern sprechen ließ, Italo Calvino bei seinen Séancen den Leser zum Medium machte, das konnte kein deutscher Erzähler leisten. Das Thema des Hin- und Her zwischen Realwelt und Buchwelt haben bisher nur die Jugendbuchautoren Michael Ende („Die unendliche Geschichte“) und Cornelia Funke („Tintenherz“) für Abenteuerromane genutzt. Geistesverwandt sind Margwelaschwili aber auch die französischen Tendenzen des Oulipo und der Serbe Milorad Pavic („Das chasarische Wörterbüch“), der nicht-linear und interaktiv erzählt – mit geisteswissenschaftlich-semiotischem Hintergrund à la Umberto Eco. Das gilt auch für Margwelaschwili – ein gebürtiger Berliner, der nach seiner Verschleppung in die Sowjetunion (1946) Deutsch- und Englischlehrer wurde, bevor er als Spezialist für Husserl und Heidegger als Philosoph veröffentlichen durfte.

Zu Margwelaschwili gibt es ein Pendant in der aktuellen englischen Literatur: die erfolgreiche Romanreihe um die Literaturagentin Thursday Next, erfunden vom Waliser Jasper Fjorde. Ihre Aufgabe ist das Auffinden von Büchern in Dystopien, deren Plots erfüllt oder verhindert werden müssen, damit sich die Welt weiter dreht. Doch Fjordes Romane in der Nachfolge von Ray Bradbury („Fahrenheit 451“) und Douglas Adams („Per Anhalter durch die Galaxis“) wollen unterhalten, Margwelaschwilis Leser dagegen erfahren, was auf einer solchen Wahrheitssuche bei der Lektüre passiert – noch dazu, und das ist sein unverwechselbares Ziel: was dem Text, wenn er gelesen wird, geschieht. Wobei „Text“ bei ihm nicht materialistisch, sondern ausnahmslos menschlich verstanden wird: Eine Geschichte sind die Menschen, die in ihr agieren – und seien sie fiktiv – Menschenrechte verdienen auch sie allemal. Bevor sie Opfer unserer Rezeptionsgewohnheiten werden, verhilft ihnen Margwelaschwili dazu.
„Eine Dreiecksgeschichte mit Copycops“ nennt sich die zweite Erzählung. Darin kommt es zu einer ménage à trois zwischen dem Dichter, seiner einstigen Geliebten und ihrem aktuellen Liebhaber im Schlösschen eines Liebesgedichts. Einst hat ein (französischer) Poet es für die Angebetete errichtet. Diese hat den Künstler damals verlassen und der real existierenden Welt den Vorzug gegeben, schließlich ihren bodenständigen jetzigen Partner kennengelernt, der ihr ein wirkliches Schloss – kein Luftgebilde – gebaut hat. In Margwelaschwilis feiner Ironie steht nur da: Im Krieg wurde dieses zerbombt; was den Gedanken einschließt, dass Echtes – real existentes – anfällig ist für die Witterungen der weltlichen Geschichte, Gedichtetes aber resistent.

Das wirkliche Paar sucht und findet Zuflucht in der Ruine des einstigen Liebesschlösschens. Als der Dichter und Urheber dessen die beiden darin findet, ist er empört. Die Auseinandersetzung zwischen den Rivalen kulminiert ohne Aussicht auf Schlichtung – bis schließlich ein Copycop zu Hilfe gerufen wird, zum Schutz der Urheberrechte. Er schlägt Folgendes vor: Aus der Geschichte einen Text zu machen, bei dem das real existierende Paar Buchweltperson ist. Erst dann könnten die drei in Frieden zwischen Buchdeckeln miteinander leben.

„Der Reiter über den Bodensee“ heißt eine Ballade Gustav Schwabs, bei der im Winter ein Kurier auf dem Weg zum Bodensee über eine verschneite Ebene sprengt. Als er eine junge Maid nach dem Weg fragt, erfährt er, dass er das Gewässer schon hinter sich hat: Unwissentlich und wie durch ein Wunder unbeschadet ist er über den gefährlicherweise nur halb zugefrorenen See geritten. Daraufhin trifft den geschockten Reiter der Schlag.
In „Erlösung von einem Doppeltod“ ist Gustav selbst dieser Reiter, das Wir der „Buch- und Balladenweltverwaltung“ agiert wieder als Erzähler, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Diese Institution übergibt dem Reiter vor Antritt der Reise den Balladentext, um damit seinen Tod zu vereiteln. Ihrer Ansicht nach war die Ahnungslosigkeit des Reiters seine Todesursache. Sobald er vorher weiß, worauf er sich bei dem Ritt einlässt, wird es keinen nachträglichen letalen Schrecken geben. Doch Gustav ist anderer Meinung: Er denkt, die Maid, die dem Reiter von der hinter ihm liegenden Gefahr erzählt, müsse fort, um diesem den Tod zu ersparen. Schweren Herzens lassen die Buchweltverwalter Gustav ziehen, denn sie wissen, dass Balladenpersonen wie dieses Mädchen nicht weggelassen werden können; der Ausgang der Geschichte gibt ihnen Recht.