Taubenflug

Roman

Autor:
Zdenka Becker
Besprechung:
Jelena Dabic
 

Roman

Unprätentiös erzählte Zeitgeschichte – Taubenflug von Zdenka Becker

Für den (Groß)städter sind Tauben ausnahmslos schmutzige, lästige und eher unschöne Geschöpfe, die er, so oft es geht, zu vertreiben versucht. Die Protagonistin des neuen Romans von Zdenka Becker ist aber zunächst einmal keine Städterin. Tauben sind für sie etwas unendlich Kostbares, und der Leser wird nach und nach erfahren, warum. Dass sich hinter dem eher konventionellen, wenn nicht sogar kitschigen Coverfoto eine Geschichte verbirgt, die sich gewaschen hat, überrascht den Leser nicht weniger als Silvias Liebe zu den grauen Vögeln.

Silvia – deren Name sehr selten fällt, da das Geschehen immer aus ihrer Perspektive und dazu in der Ich-Form erzählt wird – ist eine nicht mehr junge Frau, die gerade ihre Mutter verloren hat und zum Begräbnis in ihre Heimatstadt Bratislava fährt. Die Dinge, die sich dort innerhalb weniger Tage ereignen – quasi um das Begräbnis herum – dienen als Rahmenhandlung für die atemberaubende Geschichte, die die in Wien lebende, alleinstehende Wissenschaftlerin erzählen wird. Ruhig und gelassen, aber auch äußerst lebendig und hin und wieder auch schmunzelnd wird sie ihr ganzes Leben ausrollen und dabei die anfangs konfus erscheinende Personenkonstellation restlos aufklären – wobei mehrmals im Verlauf der Handlung, und zwar immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet, Überraschendes passiert – bis zum Schluss.

Das Mädchen Silvia wächst mir ihrer verwitweten Mutter auf, der Vater ist an einer arbeitsbedingten Asbestvergiftung gestorben. Mit den Nachbarsbuben Gregor und Daniel, die ebenfalls ihren Vater verloren haben, verbindet sie von frühester Kindheit eine enge, ganz selbstverständliche Freundschaft. Die drei wachsen "wie Geschwister mit zwei Müttern" auf. In dem stark katholisch geprägten Dorf – durchaus vergleichbar mit einem österreichischen – erleben die drei eine weitgehend unbeschwerte, glückliche und auch abwechslungsreiche Kindheit, die dann zur richtigen Zeit in eine auch mehr oder weniger normale Jugend übergeht. Lediglich der latent vorhandene Streit der beiden an sich befreundeten Mütter um ein Gartenstück hinter dem Haus beschattet das verspielte Aufwachsen der Kinder. Ein großes Ereignis – das den tragischen Verlauf der weiteren Handlung ganz entscheidend bestimmen wird – ist die Ankunft eines neuen Pfarrers. Der etwa vierzigjährige, jugendlich und in jeder Hinsicht modern wirkende Mann, pädagogisch begabt und voller Ideen, findet von Anfang an den richtigen Zugang zu den Kindern und Jugendlichen. Tatsächlich trägt er viel zu ihrer Entwicklung bei: Er organisiert Ausflüge und Reisen, musikalische und sportliche Veranstaltungen und schenkt den Kindern Bücher. Dem an Biologie interessierten Daniel, einem seiner Lieblinge, schenkt er ein Taubenpärchen, worauf dieser sich zu einem leidenschaftlichen Brieftaubenzüchter entwickelt.

Dass der dynamische Pfarrer sich von den Buben dabei ganz andere Dienste erwartet, wird Daniel bei einem Ausflug klar – was seiner Liebe zum Pfarrer vorläufig ein Ende setzt. Sein Bruder Gregor hingegen scheint sich mit Herrn Matuš irgendwie arrangiert zu haben: Ihre bedenklich enge Freundschaft bleibt bestehen, bis Daniel seine erste Freundin hat. Zu dieser Zeit, ausgerechnet in den Tagen, in denen russische Truppen in die Tschechoslowakei einmarschieren, wird der Pfarrer ein zweites Mal den mittlerweile siebzehnjährigen Daniel sexuell nötigen, was zum endgültigen Zerwürfnis der beiden und in weiterer Folge zu Daniels Flucht aus der Tschechoslowakei führt. Wie Silvia, die von frühester Kindheit an in den hübschen Burschen verliebt war und mit ihm zusammen ein großes Interesse für die gar nicht so uninteressanten Vögel entwickelt hat, ihrer Liebe in den Westen folgt und sich auf eine jahrzehntelange Suche nach Daniel macht, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Und auch nicht, ob sie ihm je wieder begegnet oder ob all ihre Mühe erfolglos bleibt und sie den Verlust ihrer einzigen großen Liebe hinnehmen muss.

zurück