Gedichte

Die Wahrheit kann ein Raubtier sein – ein neuer Gedichtband von Heinrich Ost

Die Stadt Mainz verleiht anläßlich der seit 1979 zweijährlich stattfindenden Minipressen-Messe den V.O. Stomps-Preis und in der Präambel zu den Richtlinien für die Verleihung heißt es: „Victor Otto Stomps (1897-1970), Schriftsteller, Herausgeber. In seinen Verlagen Rabenpresse, Eremitenpresse, Neue Rabenpresse wurden Bücher, Zeitschriften und Privatdrucke in limitierter Auflage, handgesetzt und gebunden, auf Gebrauchspapiersorten unterschiedlichen Formats gedruckt. Er verwendete für Text und Illustration eine Fülle zum Teil neuer Techniken und bewies Einfallsreichtum durch stets wechselnden Satz. Er war Förderer der Nachwuchsautoren, ohne diese auf Dauer an sich zu binden, und ‚grub’ vergessene Autoren aus. Damit belebte er unter Hinnahme persönlicher Opfer mit Mut und Gespür für sich entwickelnde Kräfte die literarische Szene.“
Nun verfügt Hendrik Liersch nicht nur über eine einzigartige, umfangreiche Sammlung von Büchern aus den verschiedenen Verlagen und Handpressen von V.O. Stomps, die er bisweilen auch in Ausstellungen präsentiert (u.a. 2007 in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin), sondern die Werkstatt, in der er zu drucken begann, war tatsächlich jene alte Werkstatt der einstigen Rabenpresse in der Kreuzberger Admiralstraße. Die Corvinus Presse zog später um in die Wiener Straße. Das für Stomps Gesagte trifft auch auf Liersch zu, der mittlerweile über 200 verschiedene Buchtitel in Handarbeit hergestellt hat, die allesamt Kleinode sind. Liersch wurde aus diesem Grund im Jahr 2009 mit dem begehrten Preis aus Mainz ausgezeichnet.

Zurück zu Ost. Neben dem nur in 300 Exemplaren aufgelegten Debüt von 1960 erschien 1975 mit „Bevölkerte Schatten = Zaludnione cienie“  der einzige weitere Gedichtband, zweisprachig in Deutsch und Polnisch mit Tuschezeichnungen und Grafiken in Mischtechniken von Leon Jonczyk (der auch die Übersetzung der Gedichte besorgt hatte) und einem Nachwort von Yolanda Klesen. Dann war Schluss mit Lyrischem. Erst mit dem neuen Band in der Corvinus Presse taucht Ost als Lyriker wieder auf.
Vielleicht ist er manchem noch bekannt als Übersetzer von Joseph Brodsky, von dem er bereits 1966 Gedichte übertrug und die als „Ausgewählte Gedichte“ des Jossif Brodskij bei Bechtle in Esslingen erschienen (damals keine unbedeutende Adresse in Sachen Lyrik: Wolgang Bächler erschien dort, Peter Härtling, Heinz Piontek, Helmut Heißenbüttel, Johannes Poethen u.a.m.). Brodsky war gerade von den sowjetischen Machthabern als „Parasit“ ausgemacht und zur Zwangsarbeit nach Nordwestrußland in die Nähe von Archangelsk verbracht worden. Auch späterhin hat Ost immer wieder mal (für Hanser oder suhrkamp) Brodsky übersetzt.

Heinrich Ost hat sich umgeschaut in der Welt und gerade in der gut versteckten Düsternis der Normalität, hat die „Schädelstätte / ausgeleuchtet“ und war „Im Inneren der Sprachen“. Die Maßlosigkeit in der wir unsere Schritte setzen und das dann Kultur nennen, das Kippen des Maßes auf die unreine Seite, wir zerreden das und übervölkern das Dunkle im Falschlicht der von Kinderhand genähten Lampen. „Die Kinder, die nicht sprechen, wissen alles.“ schreibt Ost. Und: „Der Tod ist der Dreck zu dem man dich macht.“
Er hat keine Angst vor solchen Sätzen, die Wahrheit kann ein Raubtier sein, wie bei Brodsky, der mit der Poesie auf die Welt einstürzt, und von dem sich Ost Mut und Einsamkeit abholt. Sonst ähnelt er ihm kaum, hat ein eigenes bildgeflutetes Parlando in das er die wichtigen Sätze stellt, damit sie beleckt werden von den kräftigen Wellenbewegungen der Worte und Metaphern weitum. „Wahrnehmen ist wichtiger als glücklich sein.“ Und gehen lassen ist wichtiger als haben. Wer hat, hat auch das Schweigen zwischen sich und dem anderen. Die schweren Steine. „Die Zeit nimmt ihnen / die Masse.“