Grasblätter

Gedichte

Autor:
Walt Whitman
Besprechung:
Thomas Hummitzsch
 

Gedichte

Hymnen auf eine erwachende Nation – die Grasblätter von Walt Whitman übersetzt von Jürgen Brôcan

Auf dem Höhepunkt seiner Dichtung befand sich Whitman, als sich seine Heimat in der tiefsten historischen Krise befand. Die tragischen Ereignisse der Sezessionskämpfe in den 1860er Jahren und seine damit verbundenen persönlichen Erlebnisse führten zu einer von allen Beschränkungen befreiten Dichtung von seltener Intensität und Strahlkraft. Die unter »Trommelschläge« sowie »Erinnerung an Präsident Lincoln« versammelten Verse gehören unzweifelhaft zu den ausdrucksstärksten und eindringlichsten Zeilen der Weltliteratur. Sie entführen zunächst zu den Aufmärschen und Militärparaden (man meint noch den Trommelwirbel und die Marschmusik zu hören) zum Beginn des Sezessionskrieges und lassen noch die Hoffnung auf ein schnelles Ende und die Wiedervereinigung der Nation anklingen. Die späteren lyrischen Berichte von den Schlachtfeldern und aus Lazaretten sind hingegen von Lethargie und Kriegsmüdigkeit geprägt, erzählen von Wunden und Schmerzen, Trauer und Tod. Hier schreibt Whitman eine Geschichte der USA, die nichts als verbrannte Erde hinterlässt. Besonders eindrucksvoll sind die Gedichte »Des Hundertjährigen Erzählung«, in dem Whitman die historische Tragik des Sezessionskrieges als geradezu deckungsgleiche Wiederholung des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges deutlich macht, sowie »Der Wundpfleger«, in dem er autobiografisch seine Erlebnisse als Sanitäter in Washington beschreibt.

Zugleich schuf diese Katastrophe aber auch die Grundlagen für den Aufstieg einer neuen und selbstbewussten Nation. Nach dem Sezessionskrieg begleitete Whitman die politischen und sozialen Verhältnisse der Vereinigten Staaten. 1871 sorgte er mit seiner kritischen Schrift »Demokratische Ausblicke« nochmals für Aufsehen. In dieser setzt er sich kritisch mit der Kapitalisierung des amerikanischen Lebens nach dem Bürgerkrieg auseinander und stellt dieser die Idee einer egalitären demokratischen Kultur und Gesellschaft entgegen. Er arbeitete auch immer wieder an seinen »Grasblättern«, strich einzelne Teile heraus und fügte neue Verse hinzu, schrieb neue Strophen, um alte zu ersetzen. 1873 erlitt er einen Schlaganfall und war infolge nur noch stark eingeschränkt arbeitsfähig. 1892 stirbt Whitman und hinterlässt ein Werk, das erst nach seinem Tod entdeckt und seine ganze Kraft entfalten konnte.
 
Jürgen Brôcans beeindruckender editorischer Leistung ist es zu verdanken, dass Whitmans sämtliche Gedichte nun erstmals in ihrem Kontext – versehen mit zahlreichen Interpretations- und Hintergrundinformationen – zu lesen sind. Zu Neuübersetzungen ist es nur dort gekommen, wo die bisherigen Übertragungen undeutlich oder falsch waren. Brôcan ist es zu verdanken, dass wir diesen großen Dichter Amerikas, der den Aufbruch seiner Nation aufmerksam begleitet und in Versform gebannt hat, nun wiederentdecken und heute noch einmal den historischen Momenten beiwohnen können, in denen eine ganze Nation der Welt ein selbstbewusstes »Salut au Monde« entgegen ruft.


Walt Whitman: Grasblätter. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Jürgen Brôcan.
Hanser, München 2009.

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