2666

Roman

Autor:
Roberto Bolaño
Besprechung:
Thomas Hummitzsch
 

Roman

Sicherheit ist im Tanz der Zeiten keine Größe – auch nicht im nachgelassenen Roman „2666“ von Roberto Bolaño

Das nun als geschlossener Roman vorliegende Werk war ursprünglich auf Einzelbücher angelegt. Bolaños Erben beschlossen gegen seinen letzten Willen, die existierenden fünf Einzelteile als Gesamtwerk zu editieren. Sie taten gut daran. Die fünf voneinander völlig unabhängigen Fragmente nehmen einzelne Details aus den anderen Teilen auf, spielen auf Ereignisse der vorhergehenden Seiten an und leisten ihren Beitrag, um Erzählstränge fortzuführen oder verständlich zu machen, so dass sie in der tiefen Struktur des Gesamtwerkes nicht nur in Kontakt stehen, sondern elementar miteinander verbunden sind.

Das Buch beginnt mit dem "Teil der Kritiker". Darin erzählt Bolaño die Geschichte von drei Philologen und einer Philologin, die sich intensiv mit dem Werk des zwar verschollenen, aber wichtigsten deutschen Nachkriegsautoren Benno von Archimboldi (ein Thomas Pynchon seiner Zeit) auseinandersetzen. Auf Kongressen und wissenschaftlichen Tagungen lernen sie sich kennen und schätzen. Die Engländerin Liz Norton geht auf die Avancen des Franzosen Jean-Caude Pelletier ein und beginnt mit ihm eine leidenschaftliche Affäre. Zeitgleich kommt sie dem Spanier Manuel Espinoza näher und lässt sich auch mit ihm auf ein amouröses Abenteuer ein. Espinoza und Pelletier erfahren von dem jeweiligen Konkurrenten, tolerieren aber die ménage à trois mit der leidenschaftlichen Britin. Der querschnittsgelähmte Piero Morini ist zunächst nur Zaungast in diesem bunten Spiel der Lust, welches Bolaño im ersten Teil entwirft und den Leser in einer unheilvollen Sicherheit wähnen lässt. Die eigentliche Erzählung der gemeinsamen Suche nach Archimboldi kulminiert in einer Reise nach Mexiko, die Pelletier, Espinoza und Norton unternehmen, da Archimboldi dort gesehen worden sein soll. Sie landen in der mexikanischen Grenzstadt Santa Teresa, in der sich ihre Suche im sprichwörtlichen Sande der mexikanischen Steppe verläuft. Liz Norton beschließt, nach Europa zurückzukehren, während Pelletier und Espinoza weiter nach Archimboldi suchen wollen.

Der zweite Teil, der kürzeste des ganzen Buches, widmet sich dem fünfzigjährigen chilenischen Professor Amalfitano. Dieser tauchte bereits im ersten Teil als Begleiter und Touristenführer der drei Archimboldianer in Santa Teresa auf. Amalfitano ist über Spanien nach Santa Teresa gekommen und seinerseits als Archimboldi-Experte an der dortigen Universität gelandet. In der Figur scheint Bolaño Teile seiner Biografie verarbeitet zu haben, denn auch er lebte als Exilchilene zeitweilig in Spanien und Mexiko. Amalfitanos Geschichte ist schnell erzählt. Er ist eine gescheiterte Existenz, von seiner (geisteskranken) Frau verlassen und allein gelassen mit seiner Tochter Rosa. Es war eher der Zufall, der ihn nach Santa Teresa getrieben hat. Nun vegetiert er in dieser Stadt des Übergangs, ohne Perspektive, weder für sich noch für seine Tochter. Zumal in der nordmexikanischen Stadt, die der Ciudad Juárez nachempfunden ist, rätselhafte Frauenmorde stattfinden, die kein Ende nehmen und er so seine Tochter in permanenter Bedrohung sieht. Dieser kurze Teil ist lediglich ein literarisches Zwischenspiel, ein Intermezzo vor dem Gemetzel, und stellt die sprachliche Brücke in Dantes Inferno dar, in das Bolaños Erzählung in den Folgekapiteln verlagert wird. Denn der Abgrund namens "Santa Teresa" wird nun für fast 500 Seiten nicht mehr verlassen.

Der dritte Teil widmet sich dem Journalisten Oscar Fate, der nach Santa Teresa fährt und von dort über den Boxkampf eines amerikanischen Newcomers berichtet. Fate interessiert sich aber mehr für die Frauenmorde und weniger für den Boxkampf – doch steht er damit ziemlich allein da. Denn für die schreibende Zunft ist der Fall der Frauenmorde glasklar. Santa Teresa ist Drogengebiet und "mit Sicherheit gebe es dort nichts, was nicht auf die eine oder andere Weise mit dem Drogenhandel zusammenhängt." Der Amerikaner lernt die junge Rosa, bekannt als die Tochter Amalfitanos aus dem zweiten Teil, kennen. Der chilenische Professor bittet den Journalisten, seine Tochter in die USA und damit in die Sicherheit zu bringen, aber Sicherheit ist in Bolaños Welt nicht vorgesehen. Der Abgrund Mexikos, den er ins Zentrum des vierten Teils rückt, öffnet hier erstmals seinen Schlund – und der Leser tappt zwangsweise in die Falle.

Im "Teil der Verbrechen" beschreibt Bolaño auf 350 Seiten in kriminologischer Akribie mehr als einhundert Morde an Frauen in Santa Teresa. Nahezu alle werden missbraucht und auf die abscheulichsten Arten geschändet. Der Chilene lässt nichts aus, schont seine Leser hier auf keiner einzigen Seite. In dem Playboy-Interview kurz vor seinem Tod sagte er, dass er lieber Kriminalbeamter als Schriftsteller geworden wäre. Diese heimliche Leidenschaft lebt er in diesem Kapitel aus. Gefühlte Hundertschaften an Frauen aus allen Schichten kommen in diesem Kapitel ums Leben. Hier ist er, der Friedhof im Jahr 2666, der am Ende vergessen sein wird.

Durch seine schonungslosen und akribischen Schilderungen des Zustands der Leichen in Verbindung mit ihrer persönlichen Geschichte setzt der Chilene den unzähligen getöteten Frauen ein letztes Denkmal. Zugleich reißt er seine Leser in einen Strudel der Grausamkeit und Gewalt, der Menschenverachtung und Unmoral. Bolaño treibt dieses Spiel soweit, dass der Leser die scheußlichen Vergehen an den Frauen bald nur noch mit einem Achselzucken quittiert und einen weiteren Strich auf seiner imaginären Todesliste macht. Der Leser wird zum wilden Detektiv, den die Tat nicht mehr schockiert, dem die Dreistigkeit und Verrücktheit des Täters aber zunehmend den Nerv raubt. Bolaños Schilderungen sind von einer physischen Intensität, die einen Abbruch der Lektüre schlichtweg nicht zulässt.