2666

Roman

Autor:
Roberto Bolaño
Besprechung:
Thomas Hummitzsch
 

Roman

Sicherheit ist im Tanz der Zeiten keine Größe – auch nicht im nachgelassenen Roman „2666“ von Roberto Bolaño

Die fünf Bücher, die mich geprägt haben, sind in Wirklichkeit fünftausend. Ich will die folgenden nur als Speerspitze nennen: "Don Quichotte" von Cervantes, "Moby Dick" von Melville. Die gesammelten Werke von Borges, "Rayuela. Himmel und Hölle" von Cortázar, "Ignaz oder die Verschwörung der Idioten" von Toole. Ich sollte auch "Nadja" von Breton erwähnen; die Briefe von Jacques Vaché. "König Ubu" von Jarry; "Das Leben Gebrauchsanweisung" von Perec. "Das Schloss" und "Der Prozess" von Kafka. Die "Aphorismen [und andere Sudeleien]" von Lichtenberg, den "Tractatus" von Wittgenstein. "Morels Erfindung" von Bioy Casares, "Satyrikon" von Petronius. "Römische Geschichte" von Tito Livius. "Die Gedanken [über die Religion und andere Themen]" von Pascal.
(Roberto Bolaño im Interview mit Monica Maristain für die mexikanische Ausgabe des Playboy im Sommer 2003)

Nur ein Autor von Weltrang kann diese Bibliothek zu seinem Grundstock literarischer Prägung erklären. Ein solcher Autor ist, besser gesagt, war der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño auch. Er starb im Sommer 2003, nachdem seine vom Hepatitis-Virus zerfressene Leber kollabierte. Zurückgelassen hat er Romane wie "Chilenisches Nachtstück" oder "Die wilden Detektive", für die er 1999 mit dem Premio Herralde de Novela und dem Premio Rómulo Gallegos zwei der renommiertesten Literaturpreise Lateinamerikas erhielt.

Sein größtes Werk, sein literarisches Vermächtnis und ganz sicher ein Roman, der Bestand haben und in den Kanon der Weltliteratur Eingang finden wird, hat er allerdings unvollendet zurückgelassen. Es trägt den sperrig-technischen Titel "2666". Einem enormen editorischen Aufwand unter Berücksichtigung mehrerer Versionen des Romans ("um mögliche Auslassungen oder Fehler zu korrigieren und um eventuelle Hinweise auf weiterreichende Absichten des Autors zu entdecken", wie Bolaños Freund und Editor Ignacio Echevarría in seinem Nachwort erklär) und der genialen Übersetzung von Christian Hansen ist es zu verdanken, dass dieses 1.085 Seiten starke "Romanfragment" nun auf Deutsch vorliegt.

"2666" heißt Bolaños Epos und stellt damit die Welt vor ein erstes Rätsel. Der Titel wird auf vielfältige Weise gedeutet. Der Roman sollte eigentlich den mystischen Titel "666" tragen, heißt es, und an die Zahl der Apokalypse in der Offenbarung des Johannes erinnern. Aus Versehen habe Bolaño statt der Anführungsstriche eine 2 geschrieben. Einige behaupten, die Zahlenkombination sollte ein sinnentleerter Dummy für einen später folgenden Titel sein, was man aber als Unsinn abschreiben kann. Denn Bolaño war, wie Echevarría in seinem Nachwort schreibt "ein sehr gewissenhafter Schriftsteller". Es ist also davon auszugehen, dass der Zahlentitel "2666" bewusst gewählt ist.

Und blättert man in seinen Werken, stößt man auf diese Zahl. In dem Roman "Amuleto" folgt die Hauptfigur Auxilio Lacouture den beiden Figuren Arturo Belano (Bolaños Alter Ego) und Ernesto San Epifánio nachts durch Mexiko-Stadt. Dort heißt es: "Die Avenida [Guerrero, A.d.A.] ähnelt um diese Stunde vor allem einem Friedhof, aber weder einem Friedhof von 1974 noch einem von 1968 oder 1975, sondern einem Friedhof im Jahre 2666, einem Friedhof, vergessen hinter einem toten oder ungeborenen Augenlid, dem wässrigen Rest eines Auges, das, weil es etwas vergessen möchte, am Ende alles vergessen hat."

"2666" scheint also eine Anspielung auf eine Jahreszahl zu sein, ein Fixpunkt, dem alles entgegenstrebt. Sofern dieser Zielpunkt tatsächlich dem Roman zugrunde liegt, erreicht er ihn nicht tatsächlich. Zwar beschreibt Bolaño diesen Friedhof, von dem in "Amuleto" die Rede ist, den Zeitpunkt seines Vergessens, also das Jahr 2666 erreicht er jedoch nicht. Bolaños Roman bleibt ganz in der Gegenwart und der nicht allzu fernen Vergangenheit. Sein Meisterwerk ist daher weder Utopie noch Dystopie, sondern ein Tanz zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Geschichte und Zukunft, zwischen Leben und Tod.

Damit ist "2666" in seiner Tiefe auch eine Reflexion der eigenen Biografie. Bolaño kannte das Balancieren auf der rasiermesserscharfen Klinge, die das Diesseits vom Jenseits trennt. Als junger Mann erlebte er 1973 die kurze Hoffnung auf Demokratie mit Allende. Pinochets Schergen beendeten diese schnell und Bolaño wurde verhaftet. Zwei Wachbeamte, ehemalige Mitschüler, erkannten ihn im Gefängnis und sorgten für seine Entlassung nach Mexiko. Auch dort blieb er nicht lang, floh weiter nach Spanien an die Costa Brava und versuchte sich dort im Drogenrausch der Poesie zu widmen. In dieser Zeit steckte er sich mit Hepatitis C an, weil er gebrauchte Heroinnadeln verwendete, um sich mit Drogen vollzupumpen. Sein Körper wurde zu einer tickenden Bombe, der mit jeder Sekunde dem Moment näher rückt, in dem er implodiert. Dieser Tatsache zum Trotz beschloss er, zu schreiben, als könnte er damit seinem vorgezeichneten Schicksal entfliehen. "2666" ist das letzte Dokument dieser Flucht nach vorn, die am Ende seines Lebens zu einem Wettlauf mit der Zeit wurde. Nur wenige Tage vor seinem Tod sagte er, dass er die nun vorliegende Fassung noch überarbeiten müsse, wenn er die Lebertransplantation erst einmal überstanden habe. Dazu ist es nie gekommen.

zurück