Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst

Sachbuch

Autor:
Thomas Metzinger
Besprechung:
Josef Bordat
 

Sachbuch

Tunnelblick –Thomas Metzingers „Ego-Tunnel“ erklärt ein Ich, das es nicht gibt

III.
Es gehört eine gehörige Portion unkritisch-naiver Wissenschaftsgläubigkeit dazu, anzunehmen, die naturwissenschaftliche Perspektive erfasse alles, die empirische Forschung erschließe uns mithin die ganze Wirklichkeit. Für diese Position hat Thomas Metzinger sein Buch geschrieben. Es kann in der dargebotenen Einseitigkeit nicht überzeugen. Umso mehr stört das bereits erwähnte kollektivistische „Wir“, mit dem sich mancher Leser wohl wird überfahren fühlen und die postulierte „weltanschauliche Neutralität“, obwohl hier Weltanschauung aus jeder Zeile spricht, nämlich die des Szientismus’. Wissenschaft als Weltanschauung – eine Alternative haben „wir“ nicht. Die ureigenen Tunnelerfahrungen mit Welt und Wirklichkeit sollen in Fragen von Epistemologie und Ethik kollektivistisch kanalisiert werden. „Wir“ müssen tun, was „wir“ nicht lassen können. „Wir“ brauchen „eine rücksichtslose materialistische Erforschung“ des Menschen. Und wenn dann jemand mit „Würde“ ankommt, brauchen „wir“ das nicht ernst zu nehmen, denn „wir“ wissen: „Würde“ sagen nur die, denen „die Argumente ausgegangen sind“. Angesichts eines derart autoritären Duktus muss dann wohl auch die beschwichtigende Relativierung: „Ich habe meine Vorstellung darüber, was ein wertvoller Bewusstseinszustand sein könnte, und Sie haben Ihre.“ als pseudo-pluralistische Rhetorik aufgefasst werden. Denn am irritationslosen „Wir“-Gefühl und an der festen und exklusiven Bindung von „Vernunft“ und „Moral“ an die Wissenschaft bei gleichzeitiger Diskreditierung kritischer Positionen als rückständig, uninformiert und dem moralischen Fortschritt hinderlich wird an vielen Stellen des Textes eines deutlich: Die „Folgelasten der Toleranz“ (Jürgen Habermas) zu tragen, ist nicht Sache des Szientismus’.

Der Weg von den Resultaten der Hirnforschung über ihre philosophische Deutung hin zu einer neuen Bewusstseinsethik erscheint mir insgesamt alles andere als so glatt und eben zu sein, wie es bei Metzinger den Anschein hat. Etwas mehr Kritik der Wissenschaft als Wirklichkeitsdeutungsmodell wäre wünschenswert gewesen, ebenso die Reflexion des naiven Realitätsverständnisses mancher Vertreter der Hirnforschung. Die eigentliche Frage wird übergangen: Lassen sich Grundaspekte der menschlichen Natur überhaupt mit Befunden aus den Naturwissenschaften hinreichend beantworten? Und: Setzt die Antwort auf diese Frage nicht bereits ein Menschenbild voraus, dass weniger mit Wissenschaft als vielmehr mit Weltanschauung zu tun hat? Der Verfasser mag die Argumente für das naturalistische Menschenbild vermehrt haben, vertieft hat er sie nicht. Von daher ist es arg vermessen, die uralte Frage Was ist der Mensch? für beantwortet zu halten, wie es an einigen Stellen anklingt. Sie bleibt offen und muss von jedem einzelnen Menschen eigens beantwortet werden – ein „Wir“ kann es in letzten Fragen nicht geben.

erschien als Originalbeitrag bei literaturkritik.de


Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Metzinger und Thorsten Schmidt. Berlin Verlag, Berlin 2009
 

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