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Gedichte
Eine etwas allzu lieblose Edition - Die gesammelten Gedichte von Hans Sahl
„Die Gedichte, die vor dem Band ,Die hellen Nächte‘ erschienen, folgen einer Auswahl, die kurz nach Sahls Tod im Rahmen eines noch gemeinsam mit ihm projektierten Dossiers erschienen. Die sich anschließenden Gedichte sind chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum angeordnet worden.“ Die „unveröffentlichten Gedichte“ hingegen sind „vorsichtig in eine Abfolge gebracht, die Assoziationen an Hans Sahls Biographie weckten und eine Ahnung von den Fragen nahelegte, die ihn in den verschiedenen Lebensabschnitten beschäftigt haben.“ (S. 311) Um mit dem Letzten zu beginnen, und zwar daß die Abfolge von Lebenserlebnissen, daß Erfahrungen und all das, was man etwas salopp vielleicht als „Was dem Dichter so durch den Kopf ging“ bezeichnen darf, Ordnungskriterien bei der Einrichtung einer Ausgabe gesammelter oder auch sämtlicher Gedichte abgeben können: Es dürfte selbst jenen, die mit Sahls Werk und Leben zutiefst vertraut sind, schwerfallen, überzeugend zu begründen, warum etwa Der Nachtfalter – „Der Nachtfalter irrt auf dem Bildschirm umher, / Geblendet vom Flackern des Lichts. / Er glaubt, es wäre ein Flammenmeer, / aber es ist nur ein Fenster ins Nichts.“ (S. 283) – irgendwo zwischen einer Ode auf Israel (S. 279 f.) und einigen Liebesgedichten der 1980er Jahre (S. 290 ff.) zu stehen kommt und nicht an einem beliebig anderen Ort. Was hingegen den ersten Teil der gerade zitierten Aussage betrifft, sind die Herausgeber offenbar einem Irrtum aufgesessen: Sahl hat zu keiner Zeit und in keiner Weise auf die Publikation der hier in Frage stehenden Neun Gedichte in der Zeitschrift „Juni“ Einfluß genommen. Insofern geht deren chronologische ,Unordnung‘ auch nicht auf irgendwelche besonderen kompositorischen Wünsche Sahls zurück, sondern schulden sich schlichtweg dem Zufall. Und nicht zuletzt deshalb hätten die Herausgeber im Band des Jahres 2009 die entsprechenden Gedichte von Alter (S. 189) bis Berliner Elegie (S. 199) durchaus in die korrekte Abfolge ihres zeitlichen Erscheinens bringen dürfen (19). Doch mit dieser korrekten Chronologie ist es ohnehin nicht weit her, denn auch bei der Einordnung der Gedichte von Die Auster (S. 225) bis Dichte mich (S. 238) hat mal das Erst-Erscheinungsdatum, mal das der benutzten Ausgabe (20), und mal das Abfassungsdatum die Hand bei der Arbeit geführt.
Selbst wenn es diese Edition primär auf eine bloße Popularisierung des Dichters Hans Sahl abgesehen hätte, so unterliegt doch auch eine Arbeit mit dieser Absicht gewissen Regeln und Standards, in die selbstverständlich auch das ,Beiwerk', Apparat und Nachwort, einbezogen ist. Mit den Quellennachweisen ist wenig Staat zu machen, vor allem auch deshalb nicht, weil sie dem Leser entscheidende Dinge vorenthalten, wie etwa detaillierte und unmißverständliche Auskünfte über die Druckvorlagen, aber auch kursorische Hinweise auf bemerkenswerte Einzelheiten der Publikationsgeschichte: daß beispielsweise das Lied der Zwölf unterwegs (S. 197 f.) erstmals, und zwar am 16. Juni 1933, in der in Prag redigierten Exil-Zeitung „Der Sozialdemokrat“ gedruckt wurde und erst danach auch in die Spalten der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ gelangte (exakt einen Monat später); daß es außerdem im sozialdemokratischen Exilblatt „Neuer Vorwärts“ in Karlsbad (25.6.1933) sowie in den Saarbrücker Zeitungen „Deutsche Freiheit“ (am 25./26.6.1933) und „Volksstimme“ (18.7.1933) veröffentlicht wurde; und daß das Lied in den Drucken der „Arbeiter-Zeitung“ und der „Volksstimme“ noch diese (von Sahl oder von der Redaktion stammende) Marginalie enthält: „So singen Emigranten an Straßenecken, in Kabaretts und Schankstätten jenseits der deutschen Grenzen. – Der Song wurde im Hilversumer Sender vorgetragen.“ Das Nachwort hingegen ist eine derartige Anhäufung von Ungenauigkeiten und Wiederholungen, Übertreibungen und peinlicher Banalitäten – „Wenn wir von 1942 aus bis 1902, Sahls Geburtsjahr, zurückrechnen, dann kommen wir zu dem Ergebnis, Sahl war […] 40 Jahre alt.“ (S. 300 f.) –, daß es kaum lohnt, viele Worte darüber zu verlieren. Aber vielleicht sollten wenigstens einige wenige seiner gewagten Behauptungen hier abschließend kurz zurechtgerückt werden.
Das Erscheinen der Hellen Nächte stellt keineswegs „etwas Einzigartiges“ (S. 299) dar, weder in der Geschichte der deutschen Exilliteratur noch im Panorama des Verlags-Programms: Der Verleger Barthold Fles hatte erst kurz zuvor Gedichte Berthold Viertels und (in Zusammenarbeit mit dem Londoner Verlag Barmerlea) Max Herrmann-Neisses herausgebracht (21). Ebensowenig ging Fles „ein Wagnis ein, als er sich dazu entschied, Sahls Gedichte in sein Programm aufzunehmen.“ (S. 300) Seine einzige ,spekulative Investition – und Sahl hat diese Geschichte in allen Einzelheiten in seinen Memoiren erzählt (22) – bestand darin, tausend Werbeprospekte (23) herstellen zu lassen, mit denen sich Sahl auf die Suche nach 250 Subskribenten machen konnte, nach deren Unterschrift Fles dann mit der Drucklegung des Buches beginnen würde. — Sahl hat bis 1933 gerade einmal ein gutes halbes Dutzend Gedichte (exakt: acht) publiziert. Daß er „sich mit diesen wenigen Veröffentlichungen in der großen Menge der damals aktiven Autoren rasch einen Ruf als bedeutender Lyriker [zu] erwerben“ vermocht habe (S. 301), für diese Behauptung hätte man gern einen Beleg. Das möchte man doch einmal sehen, daß ein Dichter-Kollege, Kritiker oder auch nur Freund Sahls Verse wie die folgenden ernsthaft zur großen Dichtung des 20. Jahrhunderts rechnete: „Du gingst vorbei / Und grüßtest schmal. / Dein Hüftenschritt / Warf mich zu Tal.“ (S. 196)