Die Gedichte

Gedichte

Autor:
Hans Sahl
Besprechung:
Momme Brodersen
 

Gedichte

Eine etwas allzu lieblose Edition - Die gesammelten Gedichte von Hans Sahl

Man tut Sahl keinen Gefallen mit solchen Übertreibungen, denn er reimte nicht mit Blick darauf, einst in den Panthéon der zeitlosen Poeten einzuziehen. Schon à propos seiner ersten Gedichtanthologie, der Hellen Nächte, schrieb er, es sei nicht seine Absicht gewesen, „,Ewigkeitswerteʽ zu geben […], sondern, in Form von Gedichten, von Balladen Sonetten, Sprüchen etc., die blutige Realität dieser französischen Katastrophe am Leser vorbeiziehen zu lassen, als läse er eine Story …“ (24) Dichten also als eine besondere Form des Erzählens großer Geschichte und kleiner Geschichten in ihrer wechselseitigen Beziehung, von Geschichte und Leben, von Lebensgeschichte im vollen Umfang des Wortes – womit Dichtung Gestaltung nicht des Zeitlosen, sondern des Vergänglichen, Ephemeren wird. Nicht von ungefähr heißt es gleich zum Auftakt dieser frühesten seiner Gedichtanthologien, in der Widmung An den Leser: „Das meiste, was hier steht ist Material, / […] // Es ist so flüchtig, wie wir selbst es wurden, / […] // Wer heute lebt, fragt nicht, was morgen ist.“ (S. 203) Und diese Auffassung durchzieht Sahls lyrisches Werk wie ein roter Faden: „Ein Mann, den manche für weise / hielten, erklärte, nach Auschwitz / wäre kein Gedicht mehr möglich. / Der weise Mann scheint / keine hohe Meinung / von Gedichten gehabt zu haben – / als wären es Seelentröster / für empfindsame Buchhalter / oder bemalte Butzenscheiben, / durch die man die Welt sieht. / Wir glauben, daß Gedichte / überhaupt erst jetzt wieder möglich / geworden sind, insofern nämlich als / nur im Gedicht sich sagen läßt, / was sonst / jeder Beschreibung spottet.“ (S. 11) Und wird schließlich in einem Gedicht mit dem Titel Gedichte schreiben – oder was davon noch übrig blieb zum Programm erhoben: „Früher dichtete ich bewußt, / ein Gefangener im Schraubstock / des Reimens, Feilens, Lötens, / […] // Heute laß ich mich gehen, / warte nicht mehr auf Eingebungen, / streife mit der Flinte durchs Knieholz, / Finger am Drücker, / no exotic birds, please, / sondern Enten, Hühner, Kaninchen, / nichts für Feinschmecker, / profanes Getier, / das mir vor die Kimme kommt, / ich trage es heim, gebündelt, / blutend, angeschossener Alltag, / gehobene Hausmannskost / für Minderbemittelte. // […] // Keats, Yeats, Baudelaire? / Wird bewundert. / Aber: keine Zeit für Filigran. / Mallarmé? Zur Kenntnis genommen. / Brecht? Letzter Versuch / einer Synthese von Hölderlin, Luther, Lenin. // Lyrik in unserer Zeit / kann nur ephemer sein. / Kommunikation mit Bewährungsfrist. / Ich mache mich selbst zum Gedicht. / Ich bin eine Begebenheit. / Ich finde statt. / Ich passiere.“ (S. 79-81)

Was bleibt? Es bleibt der Dichter Hans Sahl, der zwar nicht in dem Sinne zu den Großen der Dichtkunst zu rechnen ist, daß man seinen Namen in einem Atemzug mit denen eines Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder einer Else Lasker-Schüler nennen würde, der aber nichtsdestotrotz einige sehr schöne, ja sogar großartige lyrische Werke hinterlassen hat, wie etwa dieses:

„Ich weiß, daß ich bald sterben werde,
zu lange schon war ich auf dieser Welt zu Gast,
auf diesem Flecken, diesem Stückchen Erde,
das du, mein Gott, wenn es dich gibt, mir gabst.

Was bleibt von all dem, das ich tat und lebte?
Nur eine Kleinigkeit: Ein Mensch fand statt.
Ein Mensch, der weiß, daß er nun sterben werde
und müde ist und sagt: Ich hab es satt.

Fast schon so alt wie dieses, mein Jahrhundert
der Flammenmeere, Mörder, Folterungen,
der Volksverderber und der Volksverächter,
geliebt, gehaßt, gefürchtet und bewundert.

So nehmt, o Brüder, eine Hand voll Erde
und gebt sie mir zum Abschied auf den Weg.
Ich weiß, daß ich bald sterben werde.
Ein Gast nimmt leise seinen Hut und geht.“ (S. 237)

Allein schon um solcher Verse willen hätte er eine liebevoller edierte Ausgabe seiner Gedichte verdient.