An
der offenen Tür
U.
galt als scheu und wurde selten eingeladen. Erhielt er doch einmal eine
Einladung, dann ging er hin, wurde aber meist nicht unter den Gästen
gesehen. U. liebte es in diesem Land vor offenen Türen zu stehen.
Oft ließen die Gastgeber die Wohnungstür der Bequemlichkeit
halber einen Spalt offen, wenn die Party schon begonnen hatte. U. hielt
dann auf der Fußmatte inne und schloß ein paar Sekunden
die Augen. Mit den Fingerspitzen tippte er leicht gegen die Tür
und genoß ihre Beweglichkeit, ihr exaktes Funktionieren. Anders
als in seiner Heimat quietschten hier die Türangeln nicht. Sie
waren genau senkrecht übereinander montiert, es gab auch keine
Erdbeben, die ihre Lage veränderten. Mehrmals zog U. dann die Tür
wieder zu sich heran und wiederholte das Spiel. Es war bis ins Treppenhaus
zu hören, wie laut und fröhlich sich die Gäste unterhielten.
U. wußte, dass sie bei seinem Anblick verstummen würden
und achtete darauf, dass sich die Tür nicht zu weit öffnete.
In
der großen Stadt
Die
Schrittfrequenz und der Erfolgswille der Menschen in der großen
Stadt hatten gegenüber seinem letzten Besuch noch zugenommen. Trotzdem
mußte es Probleme gegeben haben. Schon eine Woche war er hier
und hatte nur einen Teil der Geschäfte erledigen können, für
die er sonst höchstens zwei Tage brauchte. Sein Zahnarzt war unbekannt
verzogen, sein Rechtsanwalt unauffindbar. Die Lifte bedienten nicht
mehr alle Stockwerke, und als er die Treppe benutzte, um zu seinem Lieblingsrestaurant
zu gelangen, versperrte ihm ein freundlicher Wachmann den Weg. Mit der
Zeit stieg ein Verdacht in ihm auf. Er überlegte, ob er nicht auf
der Straße etwas tun sollte, was er hier sonst strikt vermied
nach oben schauen. Denn in dieser Stadt, die so stolz auf ihre
hohen Häuser war, starrten die vielen Touristen unentwegt in die
Höhe, wenn sie nicht gerade den Stadtplan studierten, und mit denen
wollte er nicht verwechselt werden. Doch nur so konnte er die einzig
mögliche Erklärung verifizieren. Daß nämlich alle
Stockwerke oberhalb des zweiten verschwunden waren. Man hatte die Stadt
geköpft, aber niemand gab es zu.
Im
Wald der Gummibäume
Er
war seit drei Jahren wieder auf der Suche nach einem Menschen, zu dem
er nett sein konnte. Er würde sich am Beckenrand hinter ihn stellen,
ihn fest umarmen und sich während des Falls so drehen, dass
er selbst zuerst mit dem Rücken das Wasser berühren, der umarmten
Person also den Schmerz des Aufpralls ersparen würde. Unter Wasser
würde er sich kräftig vom Beckenboden abstoßen, um den
Kopf der Person, die vielleicht nicht schwimmen konnte, schnell über
die Wasseroberfläche zu bringen und ihr so das Leben zu retten.
Später würde er ihr lächelnd gegenüberstehen, langsam
die Arme ausstrecken, die Hände auf ihre Schultern legen und ganz
leise lobende Worte über die Form ihrer Ohren sagen. Vielleicht
würde er noch einen Schritt näher an die Person herantreten,
ihr seinen linken Unterarm waagrecht auf die Linie legen, die von der
einen Schulter über das Schlüsselbein zur anderen führt,
und ihr dann sacht eine in die Stirn fallende Haarsträhne nach
oben blasen, nicht ohne sich vorher mit Mundwasser den Atem gereinigt
zu haben. Schließlich würde er die Person am Handgelenk nehmen
und nachts in einen Wald von Gummibäumen führen. Die schweren,
glatten Blätter würden ihnen sanft ins Gesicht und auf die
Brust schlagen, und keine Gefahr würde wie sonst bei solchen
Wanderungen von den Spitzen abgestorbener Fichtenäste ausgehen.
Er
kannte Afghanistan aus dem Fernsehen genau
Den
ganzen Tag wanderten sie schon flußaufwärts durch dieses
Tal, das ins Innere Afghanistans führte. Sie gingen auf bequemen
Pfaden beiderseits des Flusses, querten ab und zu durch seichte Furten.
Später würde die Strömung reißender werden, das
Tal enger. Er kannte Afghanistan aus dem Fernsehen genau, es bestand
aus lauter solchen Tälern. Sie würden bald auf die gefährlichen
Paßstraßen an steilen Hängen angewiesen sein. Wie es
in dem Erlaß über ihre Entsendung gefordert war, marschierten
sie mit nacktem Oberkörper. Anfangs machte ihnen der eisige Wind
zu schaffen. Doch immer wenn sie an einem Gehöft vorbeikamen, holten
die Einheimischen, als sei das ein Gebot der Gastfreundschaft, mit ihren
verbeulten Aluminiumbechern Wasser aus dem Fluß und gossen es
ihnen über Brust und Rücken, wo es trotz der Körperwärme
sofort gefror. So legte sich eine immer dickere Eisschicht wie ein Panzer
um seinen Oberkörper. Sie schützte ihn nicht nur vor dem Wind,
sondern wohl auch vor den Kugeln der Heckenschützen in den Bergen,
vor denen man sie gewarnt hatte. Selbst um seinen Hals legte sich nach
und nach eine dicke Eiskrause und zwang ihn, den Blick immer nach oben
zu richten. Das störte ihn nicht, er bildete ja die Vorhut und
mußte die Berghänge im Auge behalten. Allerdings erschwerte
der Eispanzer alle Bewegungen außer dem Vorwärtsgehen, er
hatte sich schon lange nicht mehr umgewandt. Folgten ihm die anderen
noch, oder würde er alleine ankommen im Inneren Afghanistans?
23.1.02