1.
Zu
Foren und Häusern und Akademien und ihren Benutzern
Frage:
was ist ein Forum? Antwort: Markt- oder Versammlungsplatz;
Gerichtshof; geeigneter Personenkreis, der eine sachverständige
Erörterung von Problemen garantiert. Wir finden das Stichwort
im Fremdwörter-Duden zwischen Fortune, die und Forward,
der...
Nicht
nur Häuser können abgewohnt werden, auch alte Angewohnheiten
ihrer Nutzer nützen nichts mehr, wenn sie abgenutzt sind. Wir sprechen
dann: von Verhältnissen zum abgewöhnen. Was meist heisst:
wenn Benutzung von Häusern in Bewohnung der Reputation von Häusern
umschlägt, wird gewöhnlich aus Nutzen Verbrauch. Übrig
bleibt das Hausen in gewohnten Verhältnissen, was stets Angst vor
Unbehaustheit in sich trägt, weshalb den Hausenden das Verharren
näher liegt als das Bewegen. Wenn aber der Verbrauch den Bestand
angreift, greifen die Reputierten verhalten zum Hut: wer früh genug
vor das Haus geht, kommt danach leichter wieder hinein. Solche Beweglichkeit
ist eine besondere Form des Verharrens in verbliebener Reputation.
Für
diesen Fall oder genauer: diese Falle benötigen die
Reputierten eine Spielfigur, die bleibt, wo wenig verblieben ist: den
ehrgeizigen Enkel, der schwer schon hadert mit den alten und leicht
sich verheddern wird in den neuen Verhältnissen, die nicht so neu
sind, wie er zu spät bemerken wird. Wahrnehmungsverspätungen
oder -störungen sind übliche Kinderkrankheiten der ehrgeizigen
Enkel, wissen ihre Altvorderen. Das Verheddern hat den Fall zur Folge,
wissen sie auch, und für diesen Fall sind sie präpariert.
Graz
gewährt dieses Spiel, dessen Ausgang gewisser ist, als die Aufgeregtheit
des Gespräches darüber suggeriert, dem entnervten Betrachter
in einer Ausführlichkeit, die täuscht. Ausgeführt wird,
was einem Gespräch über Häuser täuschend ähnlich
sieht. Ab geht solcher Aufführung die Anregung, die
Spielen bisweilen mit sich bringt. An geht solche Aufführung kaum
einen mehr als die schon Beteiligten.
Nebenbei
aber fallen Sätze zur Sache, im vorliegenden Fall zur Sache Literatur.
Altvordere, nennen wir den einen Kolleritsch, geben noch immer die Nummer
vom unpolitischen Dichter, dessen Ziel eine Art von Finden und Empfinden
guten Textes sei, was als eigentliche antifaschistische (freilich unpolitisch
antifaschistische...) Aktion gepriesen wird, mit dem Obermotto Weiter
Schreiben (und nicht irritieren lassen vom Lauf der Zeit). Der
ehrgeizige Enkel aber, nennen wir ihn beiläufig Grond, gibt den
tough guy und hakt die eigene Systemumgebung unter Kunstghetto
ab, nicht ohne den zeitgemässen Aufgriff der Rede vom Verwurf der
Avantgarde, und deutet auf das Doppelgestirn aus grosser Erzählung
und Cyberspace (und nicht irritieren lassen, wenn da was nicht zusammen
passt).
So
wenig das, was an Text in Kolleritschs manuskripten verbleibt,
mit Avantgarde zu brandmarken ist, so wenig unpolitisch ist ihr Herausgeber
und Exwahlhelfer für Exlandeshauptmänner. Jene Grazer, die
auszogen, die Literatur zu erobern, bedienten sich experimenteller Methoden
zur Ornamentierung einer Sprache, die weit mehr sich aus dem Eigentlichen
speiste: dem Ins-Wort-Kommen einer Melange aus Identitäts-Überhöhung
und Re-Mystifikation
des ländlichen Raumes, die als kritischer Heimatroman einigen Erfolg
für manche österreichischen Autoren brachte, ehe der deutsche
Markt in seinen Neuen Ländern dergleichen deutscher fand (von der
neuen Mode, in Geschichte verlorener Ostgebiete zu schwelgen, noch zu
schweigen).
Dass
Grond, nicht eben zufällig Kind solcher Schreibtradition, nun zu
Schlingensiefs Freibadphilosophie wechselt, wonach der Schrei der Verdammten
verdammt viel eigentlicher sei als das vordem noch grondseits gelobte
Stammeln der Dichter an und in den Verhältnissen, mag an der grondschen
Vorliebe für radikale Wechsel liegen: vom einstmals forumbepissenden
Nebelhorn-Herausgeber zum Rambo-Präsidenten des Forums;
vom TotalGrond auf Homers Spuren zum Teilzeit-Neuromancer; vom vorrechnenden
zum abgerechneten Abrechner und zurück. Schlimmer ist, dass die
notwendige Kritik des Selbstlaufes einer bestimmten Literatur ins ebenso
Geläufige mündet: wonach die FAZ seit Jahren schon schreit
und seit Jahren schon nicht mehr allein. War es früher der Grosse
Lateinamerikanische Magische Realismus, ist es heute der Grosse Nordamerikanische
Roman (in seinen historisch-familienepischen oder cyberspacig-kriminalgeschichtlichen
Varianten), den uns die Marktbeobachter, die by the way als neoliberal
Unpolitische aufzutreten pflegen, ans Herz legen. Wie sensibel diese
self fulfilling prophets den Trend erspüren, der kein Trend mehr
ist: der Anteil übersetzter amerikanischer Bücher bei in Deutschland
verkaufter Belletristik liegt seit Jahren deutlich über achtzig
Prozent...
Keine
ästhetische Alternative also, nach der gerufen wird. Die Verbunkerung
des Einen spiegelt sich im Zugriff aufs Populäre beim Anderen,
das Primat der Fortsetzung des Gehabten begegnet der Geste absoluter
Erneuerung, hinter der alter Wein in neue Schläuche gefüllt
wird.
Frage:
Braucht Literatur mehr Häuser? Antwort: Von Literaturhäusern
profitieren vor allem ihre Hausmeister. Die Politik der knappen Kassen
bedeutet, dass Geldmittel gerade eben zum Hauserhalt gewährt werden.
Im Haus Beschäftigte tragen sich selbst, für Literatur im
Haus müssen Fremdmittel beigetrieben werden. Zur Aufrechterhaltung
des Lesungsbetriebes in der Berliner Literaturwerkstatt zum Beispiel
werden Verlage zur Vorstellung ihrer Produktlinien sowie Länder
zur Vorstellung ihrer Besten geladen, weil kein Budget für eigene
Entscheidungen bleibt. Andere Häuser, mit besseren Mitteln, reproduzieren
seit Jahren die um sie herum etablierte Hackordnung, gewähren über
die Belohnung der Hausangestellten hinaus ein loses Versorgungssystem
ihnen verbundener Dichter. Errichtung neuer Häuser scheint zwar
etablierte Nahrungsketten auszudünnen und neue zu ermöglichen,
die Erfahrung jedoch lehrt, dass Igel schneller als Hasen sind. Bin-schon-da!,
rufen die Erwählten der Trümmer des Deutschsprachigen Literaturbetriebes
von den Zinnen aller Häuser zugleich.
Wozu
also Häuser, zumal schon genug in der Landschaft stehen? Hoffen
Schriftsteller und Literaturagenten, hinter befestigten Mauern besser
gegen Subventionsverlust gesichert zu sein als ohne Haus und Hof? Literaturhäuser
sind Ausdruck der Angst, weiter Boden zu verlieren, indem sie zumindest
ein Grundstück für die gute Sache besetzen. Literaturhäuser
okkupieren den Rest an Förderpotential ohne kreative Gegenleistung.
Schlimmer
noch die Errichtung einer Literatur-Akademie: Talar und Säckel
als ästhetische Vision für Schreibende, die sich ansonsten
mit aller nichtpoetischen Rede plagen... Denn der Dichtertypus, dem
wir begegnen, entspricht häufig den Erwartungen, die von Seiten
der Kulturnation und ihrer Agenten an Dichter herangetragen werden:
ein ängstliches Wesen, gefüllt mit Gefühl: der sympathisch
unpolitische Empfindungsmensch eben. Die Literatur-Akademie gibt das
geeignete Instrument ab, Anti-Intellektualität mit stetem Einkommen
zu verbinden, denn: nichts ist unserem Dichtertypus, der so gern im
romantisch Obskuren verweilt, mehr zuwider als der kritisch beleuchtende
Diskurs zu seinem Text. Stattdessen jedoch selbst zu sprechen, bestenfalls
auf Seminarschein Lesungen eigener und geschätzter Texte vorzutragen,
wäre ihm eine freundliche Alternative. Nicht umsonst vermerkt Grond,
dass vor allem die Jungen sich schon alle als Professoren gesehen
haben beim Gedanken an die Akademie. Ob Häuser, die Akademien
bergen, also der Literatur zuträglicher sind als Literaturhäuser,
darf bezweifelt werden. Zumal der Trend zum Bin-schon-da!
sich auch hier mit Macht ausbreiten wird.
Was
aber stattdessen? Was der Literatur derzeit fehlt, sind verantwortlich
also politisch handelnde Autoren. Das Stipendien- und
Preissystem hat Missverständnisse implantiert. Dass das Befolgen
von Juryvorgaben literarische Qualität belegt, ist eines davon.
Soviel Sinnstiftung und Normerfüllung ist von der Kunst lange
nicht mehr öffentlich erwartet worden, kommentiert Michael
Cerha den Ablauf des diesjährigen Bachmann-Spektakels (Der Standard
29.6.98). Dass das Befolgen solcher Vorgaben einen Anspruch auf Unterhalt
impliziert, ist ein weiteres. Dass das Drängeln um die paar Plätze,
die dem Zirkus und seinen Beteiligten weiter Unterhaltung und Unterhalt
bei schwindender Besucherzahl gewähren, als Literaturbetrieb
bezeichnet wird, ist eine weitere Fehlinterpretation, an die sich pseudogewerkschaftliche
Forderungen anlagern, die sich wiederum als politisches Handeln missverstehen.
Literatur aber braucht, damit sie nicht zum Appendix von Amtsstuben
und Vierersitzgruppen knapp nach der Kernsendezeit verkommt, das Erproben
der Verhältnisse, das Infragestellen der Produktionsbedingungen
und Verfahren, nicht ihre bewusstlose (oder bewusste) Verlängerung.
Dass das Imitieren experimenteller Sprachformen von der Wiederbelebung
verwaschen dahinphilosophierender Pseudoepik überschrieben wird,
verbreitert den Sumpf, der uns von Texten trennt, die zu lesen wären.
Die
Extermination des Avantgarde-Begriffes hatte ihre Berechtigung als Abrechnung
mit der braven Verschulung des Experiments und seiner damit praktizierten
Entwertung, sie schüttet aber das Kind aus der Wanne, wenn sich
auf der vakanten Stelle die Wiedergeburt des Courths-Mahlerschen Relativsatzes
feiert. Ohne Vorhut bleibt das Heer blind, lässt sich dem Avantgarde-Verächter
und selbsternannten Kunstsoldaten Grond erwidern. Nur so zu tun, als
liefe man voraus, macht auch keinen grösseren Überblick, muss
seinem Kontrahenten Kolleritsch gesagt werden. Dabei hält letzterer
ein vielfach geeigneteres Instrument für Literatur in der Hand,
als es Häuser oder Akademien sind: eine verlagsunabhängige
Zeitschrift, die bestenfalls Testgelände solcher Projektierungen
ins Ungewisse sein kann. Diese Chance wird in den manuskripten
hartnäckig verspielt. Dass Kolleritsch seit Jahrzehnten dafür
garantiert, dass es mit ihm keine Experimente gibt, macht in
seiner Auswirkung auf das von Graz aus Wahrnehmbare und in Graz Veranstaltbare
einen Gutteil der Gründe für den Fall der Dinge aus.
So
schwer wiegt der Alpdruck der Fixierungen, dass auch Grond in seiner
Abrechnung nicht anders kann als in peinigender Ausführlichkeit
die Intima der immergleichen Clique auszubreiten. Irgendwo in seinem
Buch vom Soldaten und vom Schönen (was angesichts der Horrorszenarien
patriarchal-anarchischer Unflätigkeit, die aufgedeckt werden, nicht
umsonst mit der spätromantischen Phrase von der Schönen und
dem Biest spielt) wird einmal jemand in die Hinterhöfe und
Abbruchhäuser zu den Jungen geschickt, die bei Grond so namenlos
bleiben, wie sie bei Kolleritsch gesichtslos sind. Knapp bemessene Aufmerksamkeit
für die Welt jenseits der Mauern des Hauses; Kehrseite einer Festlegung
auf Grössen, die nur behauptet werden, ohne gefüllt werden
zu können.
Was
aber wird aus dem Forum? Die Grondschen Forderungen nach Bereitstellung
von Infrastruktur ist für Literatur absolet: Eine Autorengruppe,
die von dort erneut den Auszug plant, um was auch immer zu erobern,
ist nicht in Sicht, die Kompetenz für ein konsequentes literarisches
Veranstaltungsprogramm ebensowenig. Wir werden das Forum vermutlich
dennoch vermissen.
[anm.:
dieser text aus dem august 1998 war für die grazer tageszeitung
NZ verfasst und wurde leider nicht veröffentlicht]
2.
zur
sache literatur: nachtrag
der
nach stehende beitrag war teil eines newsletters der perspektive
online (http://www.perspektive.at)
und ist mitte januar 99 als nachtrag zum NZ artikel entstanden.
jenseits
der geschilderten konflikte ist literatur für die derzeit verantwortlichen
des forum stadtpark nicht wichtig genug, um weiter ein selbständiges
literarisches programm zu verantworten. stattdessen erhält alfred
goubran, verlagschef der edition selene, die gelegenheit,
unter dem titel front ? literatur für eine besetzte stadt
sein verlagsprogramm mit steirischer landesförderung zu bewerben.
dies demontiert den ort, dem sich die bedeutung von graz als künftiger
kulturhauptstadt verdankt. es scheint klar zu sein, dass
die kampflose preisgabe des forum-renomées seitens verantwortlicher kulturpolitiker
nichts anderes bedeuten kann als das vorliegen fertiger pläne für
die zeit danach. die jungs im stadtpark wissen das auch. ihnen ist kollaboration
(der geeignete begriff angesichts der goubranschen wortwahl) bequemer
als widerstand gegen den eigenen zerfall. dabei wird eine melange aus
pop-strategien der 70er mit aktuellen poesien im rückwärtsgang
favorisiert von einem, der es den bislang etablierten schon immer irgendwie
zeigen wollte: das front-vokabular entstammt der üblichen
emporkömmlingsrhetorik, hinter der sich träume von totalen
siegen verstecken. die besetzte stadt wird es zum anlass
nehmen, sich hinter weit tradierteren vorstellungen neu zu formieren.
der zug fährt rückwärts, wenn der herausgeber der lichtungen
berufen wird, das literarische programm der kulturhauptstadt
zu gestalten...
und
wo stehen die nachfahren der experimentellen tradition in österreich?
sie schreiben weiter unter preisgabe der eigenen position. hinter den
kulissen steht ein böses F: solange haider nicht den spielverlauf
bestimmt, scheint auf der bühne zu bleiben schon genug. das sich-festklammern
am status quo entspricht einem verzicht auf notwendige selbstbestimmung,
denn das abwarten des eintretens einer existenziellen bedrohung (durch
löschung bisheriger kulturbudgets in womöglich völkischem
interesse) stellt keine handlungsalternativen bereit. das noch
weiter schreiben überhöht sich in der zwischenzeit zur widerstandsgeste,
die mit der ständigen angst, aus den schon charakterisierten reproduktionsverhältnissen
für nicht vermarktbare literatur zu fallen, verschmilzt zu einer
hilflosigkeit, die an lähmung grenzt einer lähmung
allerdings, die sich nicht im zusammenbruch der eigenen literarischen
produktion zeigt, sondern im fortschreitenden verlust der diskursfähigkeit.
darauf justiert, im noch gegebenen das mögliche für
sich zu nutzen, werden von den nachfahren der experimentellen tradition
in österreich auch experimentelle verfahren als bedrohlich isoliert,
die nicht auf der spur der eigenen tradition verbleiben. experimentelle
tradition wird so zu melancholischer verkapselung als ästhetischer
methode ? unter preisgabe eben des begründungszusammenhanges, dem
sich die eigene noch-position ursprünglich verdankt.
weiter
schreiben wird so zum label einer literatur, deren hersteller
die frage der fortsetzung der produktion über die frage der relevanz
der produktion stellen und sich gegen die frage der relevanz
abschirmen mit demselben ideologieverdacht, dessen sich kulturkonservative
kreise bis hin zu den sonst gefürchteten völkischen elementen
bedienen. die österreichtypische verquickung von autoren- und verlegerposition
befördert dieses weiter schreiben zusätzlich,
indem sie einer cliquenwirtschaft sich wechselseitig publizierender
autoren vorschub leistet. so positiv eine stabile, staatsgeförderte
kleinverlags-szene für eine vielzahl von ästhetischen ansätzen
sein könnte, so negativ wirkt sie, wenn sie zum selbstbedienungsladen
für einen begrenzten autorenpool verkommt, der im lauf der zeit
bei allen zur verfügung stehenden verlagen seine publikationen
plaziert, bis tendenziell jeder im pool vertretene autor bei jedem der
verlage vertreten ist...
solche
all-in-all-situationen sorgen dafür, ästhetische oder kulturpolitische
differenzen erst gar nicht entstehen zu lassen, sondern stattdessen
einer strategie der schliessung zu folgen, deren psychosoziale komponente
um den angesprochenen ideologieverdacht ergänzt wird. dass dieser
sich diffus gegen literarische konstruktionsmuster richtet, die in österreich
nie irgendeine bedeutung erlangen konnten, aber schon in der mini-manuskripte-debatte
am ende der sechziger jahre (m 25-27) gegenstand der abgrenzung waren,
ist kein zufall: ideologiebereinigtes weiter schreiben ermöglicht
unauffällige erfüllung der förderbedingungen, täuscht
die fraglosigkeit der eigenen produktion vor, erspart die analyse der
produktionsbedingungen und -verfahren...
es
ist ein diskursives vakuum entstanden, das den diskursverzicht als allgemeine
handlungsmaxime implantiert. so gab es nach der ablösung gronds
eine reihe hilfloser solidaritätslesungen zur aufrechterhaltung
eines literaturprogramms im forum stadtpark, anstatt die krise für
eine kritische bestandsaufnahme der literarischen institutionen und
des umgangs der autoren mit ihnen zu nutzen. an die stelle möglicher
selbstverantwortung schiebt sich passive hoffnung, es werde schon irgendwie
weitergehen und man selbst bleibe teil davon. so fehlt nach der usurpation
goubrans erneut jeder impuls, sich der auflösung der wichtigsten
autorenverwalteten institution österreichs entgegenzustellen.
die
frage nach den nachfahren der experimentellen tradition in österreich
wirft noch eine weitere auf: wieviele der nachfahren fühlen sich
noch einer experimentellen tradition verpflichtet? der begriff experiment
ist unter das verdikt der ideologie-bereiniger geraten, die ihren aufschwung
parallel zum kollaps staatssozialistischer systeme erfahren haben und
noch weiter erfahren. dass hierbei experimentelle literatur
gern mit totalitärer struktur identifiziert wird, gehört
zu den treppenwitzen des sogenannten postideologischen zeitalters
nach dem ende der sogenannten postmoderne, die häufig
genug als philosophische hülse des sich vollziehenden wertewandels
zu dienen hatte (zu erinnern wäre an die weise der verbreitung
postmoderner philosophien als ergebnis direkter förderung
durch konservative regierungen z.b. in frankreich und deutschland: eine
beschreibung dieser steuermechanismen
zur herstellung postideologischer zustände steht noch
aus...). dass literaturwissenschaftler sich mit arbeiten zum zusammenhang
von experimenteller literatur und staatlicher unterdrückung hervortun,
erinnert an zeiten, da böll, grass und walser in westdeutschland
die verantwortung für die aktionen der RAF zugeschoben worden ist
von damals allerdings kaum ernstgenommenen rechten wissenschaftlern
und politikern. im postideologischen zeitalter verbietet
sich eine kritik solcher unterstellungen schon deshalb, weil sie ideologisch
argumentieren müsste im sinn einer kritik des neokonservativen
umbaus von linksintellektuellen szenen, deren verständnis für
vermeintlich dekadente auswüchse des bürgerlichen systems
nie das grösste war. auf diese argumentative umgebung bezogen muss
die aufkündigung von konzepten wie experiment und avantgarde
gelesen werden. dass viele der jüngeren autoren mit kaum mehr ideologie
konfrontiert worden sein dürften, als sie zeitweilige wohngemeinschaften
in den achtzigern bereitzustellen wussten, gibt den aversionen dieser
generation etwas fast belustigendes.
die
aufkündigung von konzepten wie experiment und avantgarde bedeutet
jedoch die aufgabe künstlerischer autonomie. das hohelied der guten
literatur wird gesungen mit dem refrain nur wer nur schreibt
gut, doch interesseloses wohlgefallen ist allenfalls als rezeptionsmuster
re-etablierbar, es war nie ein herstellungsverfahren. für ein gespräch,
das nach strukturen, paradigmen und deren historischer entwicklung fragt,
ist die verwendung von begriffspaaren wie kanon versus experiment
unerlässlich. wenn autoren aufhören, sich einem gespräch
über die eigenen erkenntnisinteressen zu stellen, um stattdessen
ein phänomenales palaver zu betreiben, dessen thematische vielfalt
an die der nachmittags-tv-talks heranreicht, aber jeden vorstoss zum
betriebskern unterbindet, dabei via symposium, kolloquium und wochenendbeilage
verwertbaren nutzen erbringt im sinn noch oder gar nunmehr
vitalen kulturschaffens, unterwerfen sie sich interessen, die ? abgesehen
von materieller teilhabe ? nicht die ihren sind. sich auf gefällige
belieferung eines agenturgestützten literaturbetriebes reduzieren
zu lassen entspricht der aufgabe von autonomie, daran ändert weiter
schreiben sowenig wie hektische teilnahme an sovielen events wie
möglich.
es
gilt, den begriff avantgarde von der engführung auf die historische
avantgarde zu befreien. der terminus historische avantgarde
ist teil eines argumentativen bestrebens nach reorganisation kultureller
entwicklung in epochen, die es erlaubt, bestimmte ästhetische fragestellungen
bestimmten zeitabschnitten zuzuordnen. historische avantgarde
als zeitgenosse sich entfaltender antibürgerlicher und totalitärer
weltanschauungen kann so leicht an diese rückgekoppelt
und mit ihnen für obsolet erklärt werden. die erwähnten
literaturwissenschaftlichen untersuchungen verdächtigen jeden experimentellen
ansatz, weil die veränderung vorliegender ausdruckssysteme den
willen zur weltanschaulichen veränderung der rezipienten
in sich berge, was die forderung nach umerziehung dieser rezipienten
nach sich ziehen müsse (ein vorwurf, der, auf die allfälligen
veränderungen naturwissenschaftlicher verständnisse angewendet,
für absurd gehalten würde). die in der mehrzahl der feuilletons
lesbare abwertung noch auffindbarer kopflastiger kunst/literatur/etc.
wird mit dem nämlichen verdacht gegen zuviel gewolltes, zuwenig
erfühltes in stereotypen formulierungen intensiviert, als
gälte es, sich von einer art übermächtiger kubistischer
diktatur zu befreien. auf der gegenseite findet sich das lob der lebendigen
empfindung und organischer authentizität, die als anthropologischen
grundkonstanten unterliegend definiert wird. während das
gewünschte (die kanonisierten ausdrucksformen mit konstanter emotionaler
motivation) ins überhistorische gehoben wird, lässt man das
unerwünschte (die experimentellen konzepte und mit ihnen das experiment
als intellektuelles konzept) ins überwundene fallen. solche operationen
sind dem philosophischen gehalt nach ideologisch.
die
avantgarde sichert durch aufklärung: ihre systembeobachtung dient
der selbsterhaltung des systems. wie aber sichert sich die avantgarde
vor dem system? durch verschärfte beobachtung und grössere
beweglichkeit, schreibt dagegen hannes böhringer. die rückbesinnung
auf den militärischen terminus ergibt einen sinnvolleren umgang
mit den begriffen: vorhut stellt ein handlungskonzept dar,
das eine bedingung des funktionsfähigen gesamtsystemes
ist. dabei unterliegt die vorhut notwendig anderen verhaltensgrundsätzen
als die nachrückende hauptmacht, die sich hier mit kanon
übersetzen lässt (kanon definiert sich sowohl in der definition
massgeblicher ästhetischer verfahren als auch in der konstitution
einer begrenzten menge massgeblicher werke sowie vorbildhafter lebensentwürfe
für die hersteller massgeblicher werke).
die
von der vorhut geleistete erkundung setzt, indem sie jeweilige gegebenheiten
der erkundeten umgebung als geforderte verhaltensanpassung an die hauptmacht
zurückmeldet, eine permanente infragestellung des je konstitutiven
settings der hauptmacht voraus. koppelt sich die hauptmacht von den
erfahrungen der vorhut ab, bleiben ihr zwei alternativen: das errichten
befestigter stellungen und der damit einhergehende verzicht auf weitere
bewegung/entwicklung oder das vorrücken nach gutdünken bzw.
auf der grundlage bisher gemachter erfahrungen. beide verhaltensweisen
lassen sich für das system literatur identifizieren. einerseits
der rückzug in die stellungen: literatur verändert damit,
wenn auch für den rezipienten vorerst unmerklich, ihre systembedingung,
indem sie vom konzept bewegung zum konzept festung
wechselt. dies impliziert den wechsel von erfahrung zu behauptung
bzw. ergibt den grossautor, der zur abendstunde zufrieden
zwischen marmorrepräsentationen seiner literarischen figuren wandelt.
andererseits das vorrücken auf neues gelände in althergebrachter
art: die literarischen bewältigungen fluktuierender
persönlichkeitskonzepte und sich verändernder medialer bedingungen
mit der folge gesamtsystemischen wandels stapfen dann als terrordrom
über die bühnen, dass es nur so schillert...
für
verzichtbar wird das avantgarde-konzept jedoch nicht allein von den
hohepriestern des kanons gehalten, sondern ? wie schon erwähnt
? auch von den verstreuten nachfahren jeweiliger experimenteller tradition.
diese, überflüssig geworden für die festungskommandanten,
versuchen sich einigermassen vergeblich als nebenkanon zu behaupten.
dass ihre verhaltensgrundsätze und produktionskonzepte zu denen
des kanons sich als inkompatibel erweisen, lässt sich für
eine periode der am-leben-erhaltung noch ignorieren, jenseits
staatlicher förderung zerfallen die schmalen aussenforts schnell;
was im übrigen die ambitioniertesten unter den nachfahren der experimentellen
tradition dazu motiviert, rechtzeitig ins lager des hauptkanons zu wechseln.
der einstieg wird dabei stets über die rückschau auf historische
konzepte gewählt, sei es als nachgeburt nestroys oder als raketenstations-dante.
die
funktion der beobachtung wird von böhringer als systembeobachtung
beschrieben, die neben der erkundung der systemumgebung auch die observation
des systems selbst beinhaltet. dies weist der avantgarde eine weitere
aufgabe zu, die das herkömmliche vorhut-konzept überschreitet.
die kritik des kanons aus den erfahrungen, die sich an den systemischen
rändern ergeben, wird durch die kritik der wechselseitigen beziehung
von vorhut und hauptmacht als bedingung für den erhalt des gesamtsystems
ergänzt. gerade in zeiten umwälzender veränderungen in
der systemumgebung wird diese aufgabe der avantgarde wichtig, um lebenserhaltende
impulse an das system weitergeben zu können.
als
taktische massnahme empfiehlt böhringer neben schärferer beobachtung
eine höhere beweglichkeit. fordert das eine die entwicklung des
beobachtungsinstrumentariums, um bessere fokussierung, höhere bildschärfe
sowie sich erweiternde mustererkennungsverfahren zur verfügung
zu stellen, stellt das zweite eine empfehlung zu einer wahrnehmung durch
positionswechsel dar: wer den standort variiert, verfügt über
mehr perspektiven, und wer die bewegung zwischen den aufenthalten seiner
praxis als instrument hinzuzufügen vermag, erhöht nicht nur
die erkenntniswahrscheinlichkeit, sondern ermöglicht der wahrnehmung
einen dimensionalen sprung. ein solches konzept von avantgarde installiert
einen mehrdimensionalen wirkungsraum für literarische systeme,
freilich um den preis erhöhter systemkomplexität.
standardisierbare
abweichungen wie z.b. serielle anordnungen, die in das kanonisierte
sprachsystem eine überschaubare menge von variablen einführen
oder umgekehrt dem system eine überschaubare menge von elementen
entziehen, mögen helfen, die mechanik schon etablierter sprechweisen
zu exemplifizieren, also einen blick ins vorliegende system zu erlauben.
wäre die aufgabe der avantgarde darauf beschränkt, die zur
verfügung stehenden mittel ins bewusstsein zu rufen und neu zu
justieren, könnte eine solche experimentalsituation
(die tatsächlich versuchsanordnungen rekonstruiert, die dem funktionieren
des schon etablierten kanons zugrunde liegen, nicht jedoch auf der grundlage
neuer paradigmen experimentiert, die in bislang unerschliessbare
bereiche vorzustossen erlaubt) als ausreichend empfunden werden. die
überhaupt noch anerkennung findenden experimente sind
von dieser art, die konfrontation mit systemumgebungen ergibt jedoch
einen anderen handlungsbedarf.
dass
experimente und avantgarde-verständnisse, die sich der ungleich
diffizileren aufgabe des doublebind von fremderkundung und
selbstbeobachtung stellen, von den vertretern des traditionellen
experimentes mit grösster feindseligkeit beiseitegeschoben
werden, erklärt sich aus dieser differenz von einblick und ausblick.
während
der bedarf an exemplarischen experimenten begrenzt ist, bedeutet das
überschreiten des schulmässigen experimentellen rahmens ein
ausloten neuer
verfahren, was auch das scheitern neuer versuchsanordnungen impliziert:
fehlversuche stellen in einem erkundungsprozess sogar notwendige
impulse zur herausbildung neuer erkenntnismodelle dar. avantgarde erweitert
den horizont, indem sie sich in der begegnung mit unbekanntem als verwundbar
erweist. die tendenz vieler experimenteller verfahren, sich im zuge
ihrer etablierung zu verhärten (meist mittels beibehaltung einmal
gewählter verfahren, häufig sogar deren fortschreitender standardisierung),
entspricht einem rapiden abnehmen der wahrnehmungsfähigkeit über
den einmal gefundenen punkt hinaus (was von den davon betroffenen in
der regel nicht wahrgenommen wird, da sich ihnen, in einer sehnsucht
nach ordnung der welt unter nunmehr eigenen paradigmen, im ergebnis
der abschottung räume zu öffnen scheinen, die allerdings hinter
ihnen liegen, also bereits durchquert worden sind).
die
an den rändern notwendige höhere geschwindigkeit bringt ausserdem
mit sich, dass klare identifizierungen erschwert werden. das springen
zwischen standorten und beschleunigungen hat eine form avantgardistischer
identität zur folge, die sich nicht unter etablierten wiedererkennungsmustern
subsumieren lässt, sondern fluktuiert. verortbar zu sein stellt
für avantgarden eine systemische bedrohung dar, was die unattraktivität
von avantgarden für vermarktbares kulturschaffen wesentlich zur
folge hat.
identifikation
gehört zu den grundvoraussetzungen des überlebens im vorliegenden
literarischen raum ? dank der subjektstiftenden aufgabe, die der schriftkultur
in bürgerlichen systemen zugewiesen wird. das vom literarischen
kanon legitimierte experiment ist daher stets das bereits identifizierbare,
dessen zulassung erfolgt, wenn es keinen erkenntnisgewinn mehr zu erbringen
imstande ist. verortbarkeit ist daher funktionsvoraussetzung für
kanonisierte experimentpositionen, die nur so (unter förderbedingungen)
adressierbar bzw. (als event) identifizierbar gemacht werden können.
ein
grundmechanismus, mit dem sich der kanon gegen angriffe auf seine position/legitimation
zu wappnen versucht, wenn er über kreativere operationskonzepte
nicht mehr verfügt, besteht in der massierung seiner kräfte.
die macht der zahl, der aufmarsch möglichst vieler etablierter
namensträger, war stets übliches abschreckungsmanöver,
wenn es galt, in stellung zu bleiben. welches mass an bedrohung zur
stunde besteht, mag an der tatsache abgelesen werden, dass im jahr 99
das wochenmagazin die zeit zweiundfünfzig namensträger
des literarischen betriebes für die verfassung eines fortsetzungsromans
verpflichten konnte: eine art letztes aufgebot gegen den wahrnehmungsverlust,
dem das literarische system nach preisgabe seiner avantgarden ausgesetzt
ist. dass solche textreihen, wo der zweite die figurenkonstellationen
des ersten weiter zu erzählen hat, den klippschulmethoden der creative-writing-kurse
entsprungen sind, zeigt den taktischen rückfall der literatur auf
landsknechtniveau. wer nichts mehr erkennen kann, muss eben alte waffen
putzen. man könnte aber auch sagen, dass es einen an ein paar spannendere
kindergeburtstage erinnert.
[anm.:
dieser text wurde im grazer feuilletonmagazin schreibkraft veröffentlicht,
darunter eine notiz der herausgeber, in der sie sich vom inhalt distanzierten;
letzten herbst bei einem auftritt perspektives im forum stadtpark distanzierte
sich einer der herausgeber von seiner damaligen distanzierung und ergriff
partei für ps avantgarde-update-diskussion.]