„Das Einzigartige an der Short Story ist, dass wir alle eine erzählen,
leben, niederschreiben können“, schrieb Christina Stead,
die australische Romanschriftstellerin. Die Story ist die zugänglichste
der literarischen Formen. Jeder hat eine Story. Es war niemals
eine exklusive oder elitäre Form. Große Short Story-Schreiber
waren immer auch Romanciers, Dichter, Dramatiker, Essayisten;
nur wenige haben ausschließlich Stories geschrieben. Eine der Stärken
der Story ist ihre Art und Weise, so eine Vielzahl an Schreibern
anzuziehen. Dies wiederum trägt zur Vielfalt ihrer formalen Ausdrucksmöglichkeiten
bei – erzählend, lyrisch, dramatisch,
märchenhaft, abenteuerlich erfunden oder berichtend. Die Story
steht im Dialog mit Romanen, Gedichten, Theaterstücken, Essays:
sie verschließt sich anderen Genres gegenüber nicht. Sie ist dazu
imstande, die formale Strenge eines Gedichtes zu verkörpern, den
Dokumentarwert einer Fallstudie, die Zartheit einer Träumerei, die
schreckliche Wahrheit eines Geständnisses, die Klarheit eines
Exempels und auch die Heiterkeit eines plötzlichen Einfalles.
Australien hat eine starke, fortlaufende Tradition der Short Story:
von Marcus Clarke in den 1870ern über Henry Lawson und Barbara
Baynton zur Jahrhundertwende wurde ein steter Fluß kraftvoller
Stories hervorgebracht. In der vorliegenden Auswahl liegt
der Schwerpunkt auf Stories der Gegenwart. In den letzten zwanzig
Jahren hatte sich Modernismus als literarische Ausdrucksform ziemlich
gefestigt. Aber die realistische Tradition, der er mutig begegnete,
gab keinerlei Anzeichen, das Feld zu räumen. Realismus wurde
durch Modernismus nicht ersetzt; in der literarischen Praxis dieses
Jahrhunderts existierten sie eher nebeneinander. Darüberhinaus
bestehen sie nicht als entgegengesetzte, einander ausschließende
Positionen, weil Schriftsteller stets sowohl realistische als auch
modernistische Aspekte in ihre Arbeit eingebracht, und zu unterschiedlichen
Zeiten beide Tendenzen durchforscht haben. Ständigen
Erneuerungen und Entwicklungen unterworfen, blieben beide
Formen in Australien bestehen.
Es besteht keine Veranlassung, eine spezifisch australische Form
für die Short Story zu beanspruchen. Die besondere Stärke der
Tradition – und es ist eine besonders starke Tradition – mag nicht
als eine in der Form einzigartige Kraft beschrieben werden, wohl
aber als eine den Problemen der australischen Romanciers entgegenkommende.
Australiens Verlagswesen, überwiegend in ausländischem
Besitz, hat nur zeitweilig große Begeisterung für die
australische Literatur gezeigt. Wo Romane keinen Zugang zur
Publikation fanden, schafften es aber einzelne Short Stories. Diesen
notwendigen Überlebensstrategien der Autoren schuldet die
Vielfalt und Kunstfertigkeit der australischen Story viel, was wiederum
kräftig beim Erarbeiten einer großen Leserschaft half. In
den 1890ern hatte THE BULLETIN, ein Wochenmagazin, von sich
aus die Story gefördert. Aber zu der Zeit, als jene Stories geschrieben
wurden, die in die vorliegende Anthologie aufgenommen sind, war
der Markt in den Periodika schon fast völlig geschlossen. Vierteljährliche
Literaturmagazine, die in Zusammenarbeit mit Universitäten
herausgegeben werden, stellten eine institutionalisierte Heimat
für die Literatur während dieser Jahre dar. Als diese Literaturzeitschriften
aber neuen literarischen Entwicklungen zu restriktiv
gegenüberstanden, entfalteten sich andere Strategien. Kleine Magazine,
die eine Veröffentlichungsmöglichkeit boten, wucherten.
Einige Jahre lang erschien eine Short Story-Beilage, die sich TABLOID STORY betitelte und von Ausgabe zu Ausgabe jeweils
einer anderen etablierten Publikation beigefügt wurde. Für eine
Weile boten wöchentliche Magazine ein Zuhause, aber auch die
folgten den aussterbenden Magazinen allgemeinem Inhalts nach.
Während dieser Zeit kam es zu einem Wiederaufleben öffentlicher
Lesungen. Open-Air-Lesungen am Hafen von Sydney, in Parks,
Caféhäusern, Kneipen, Rathäusern und im Universitätsbereich legten
ein neues Gewicht auf das gesprochene Wort, was wiederum zu
ganz spezifischen literarischen Entwicklungen führte. Die Stories
wurden kurz und bei diesen Lesungen genauso bereitwillig vorgetragen,
wie Gedichte. Der Schreibprozeß selbst profitierte von dieser
Beziehung zur Lyrik, von der Begegnung mit poetischer
Konzentrationsgabe und den Einflüssen eines lebendigen,
zeitgenössischen Sprachgebrauchs. Es handelte sich nicht nur um
das Wiederentdecken des Geschichtenerzählens oder des Knüpfens
von Seemannsgarn; Formen, die nie verschwunden waren. Diese
Bewegung bezog auch die sprechende Stimme mit ein unter Verwendung
all ihres Potentials und ihrer Doppeldeutigkeiten.
Man könnte von einer Anthologie moderner australischer Stories
erwarten, dass sie etwas aus dem modernen australischen Leben
aufzeigt. Modernismus könnte Formalismus bedeuten wie auch
Selbstbezug zu manchen seiner Regeln, aber wir lesen Stories auch,
um über Dinge informiert zu werden: Geschichtenerzählen wie
Märchenerzählen. Selbstverständlich läßt die ‚Wirklichkeit‘ dieser
Geschichten immer Zweifel zu; der Anspruch auf größte
Authentizität von realistischen Erzählungen legt genauso die Möglichkeit
nahe, dass alles nur erfunden, nur eine ‚Geschichte‘ ist.
Doch gerade eine Geschichte kann uns viel über den Erzähler
berichten und über die Welt, die diese Geschichte entweder in sich
aufnimmt, oder ablehnt. Wieviel des modernen australischen Lebens
diese Stories darstellen, mag der Leser selbst beurteilen. Ohne
Zweifel gibt es schreibend Ausgeschlossenens und Unterdrücktes;
aber worüber Autoren einer Generation nicht schreiben, ist für spätere Generationen oft ebenso aufschlußreich, wie das, worüber
sie schreiben.
Ein Vorwort mag in der Tat auch Literatur sein, aber eine weit
weniger unterhaltsame als die einer Story. Da gibt es Erfreuliches
an der Story, das kritische, politische, philosophische oder historische
Texte niemals erzielen. Das ist auch der Grund, warum sie
gelesen werden. Es ist an der Zeit, uns ihnen zuzuwenden.
Übersetzt von Gerald
Ganglbauer