Nimm das Haus, hatten Max und
Sabine gesagt, wir sind doch ohnehin fuer drei Monate in Amerika,
was soll es leerstehen. Einem Haus tut es nicht gut, leer zu
stehen, es fuehlt sich vernachlaessigt, und das laesst es dich
spueren. Ein Haus braucht Menschen, so wie ein Mensch ein Haus
braucht.
Alice hatte ja gesagt. Hatte die Argumentation ruehrend gefunden.
Sie war Max und Sabine dankbar, dass sie ihre Sorge um sie so
ausgedrueckt hatten und nicht unangenehm persoenlich wurden. Alice
mochte es nicht, wenn Menschen, die ihr nahestanden, die Sorgen,
die sie sich um sie machten, als willkommenen Vorwand benutzten,
um jetzt alles aus ihr rausholen zu duerfen, was sie partout
drinnen behalten wollte. Was ging es die anderen schliesslich an,
dass sie zusammengebrochen war? Eine reine Stresssituation, nichts
Persoenliches. Das hatte ja auch der Arzt gesagt.
Da war sie nun also.
In dieser maerchenhaften Landschaft: blaue Berge, blaue Seen,
blauer Himmel.
Ein Sommer, der flirrte und flimmerte und praechtige Pfauenraeder
schlug, um Alice zu beeindrucken, wenn sie ueber die Wiesen ging
und vor Vergnuegen seufzte. Riesige Wiesenblumenstraeusse
pflueckte sie. Wie Pretiosen suchte sie Blumen, Halme und Unkraut
aus und fuegte sie geschickt ineinander.
Im Haus hatte sie alle Fenster und Tueren geoeffnet und fuehlte
sich schweben in all dem Licht und in der leichten Brise.
Ungeheuer und luxurioes kam es ihr vor, alles so offen lassen zu
koennen, und nicht gleich die Tueren hinter sich versperren zu
muessen, wie sie es von der Stadt gewohnt war. Fenster offen
stehen lassen zu koennen, ohne dass der Verkehrslaerm sie halb
taub machte.
Hier hoerte sie nur die Voegel und den Wind, der manchmal das
Plaetschern der Wellen mitbrachte. Abends trug sie ihr Essen auf
einem Tablett hinaus auf den Bootssteg und machte ein Picknick.
Auch die Lebensmittel waren am Land anders, als in der Stadt, fand
Alice. Sie war verliebt in das wuerzige Brot und in den frischen
Kaese, den sie vom Bauern kriegte. Und wenn Obst direkt vom Baum
pfluecken, nicht das Paradies war, wusste sie auch nicht, was es
sonst haette sein sollen; so sehr war sie daran gewoehnt, dass es
in Supermarktregalen waechst. Wenn sie da so sass, auf den
unbehandelten Holzplanken, die Beine im Tuerkensitz oder gar ins
Wasser haengend, mit einem schoenen Glas leichten Weisswein in der
Hand, und ueber den See schaute, wie er den riesigen, orangeroten
Sonnenball in sich aufnahm, war das Leben perfekt. Da hob sie ihr
Glas und prostete der Gegend zu.
Herr, der Sommer ist sehr gross!, war ihr andaechtiger
Lieblingstrinkspruch geworden.
Seit drei Wochen war Alice nun da und konnte sich kaum mehr
vorstellen, dass es in nur wenig mehr als zwei Stunden Entfernung
diese Stadt gab, die so laut und unbarmherzig war.
Wo Menschen einander betruegen, bestehlen, ueberfallen und
ermorden. Wo sie sich alles nur Denkbare, aber auch Undenkbare
antun, um schliesslich selber gejagt und gefangen zu werden und
vor Alices Richtertisch landen. Alices taegliches Brot ist es
dann, die Geschichte dieser Furchtbarkeiten zu hoeren und zu
erfassen, ueber Schuld und Unschuld zu befinden, zu urteilen und
Recht zu sprechen. In Fleisch und Blut ist ihr das uebergegangen,
selten, dass sie noch wirklich erschrickt. Je mehr die Jahre
vergehen, umso selbstverstaendlicher kommt es ihr vor, dass die
Menschen all das tun und sind.
Je mehr die Jahre vergehen, umso mehr verliert Alice ihren Glauben
an die Sinnhaftigkeit ihres Tuns. So fern die Zeit, als sie
Salomon nacheifern wollte, ohne sich laecherlich vorzukommen mit
diesem Anspruch. Als sie noch daran glaubte, mit ihren Worten die
Herzen der Menschen erreichen und sie zur Umkehr bewegen zu
koennen. Als sie noch an Gerechtigkeit glaubte.
Jetzt schluepft sie in die Robe und nimmt ihre Rolle im ewigen
Kreislauf ein.
Alice schuettelt den Kopf. Daran will sie jetzt nicht denken. Sie
ist doch da, um Abstand zu gewinnen, sich zu erholen,
auszuspannen, und alles, was der Arzt sonst noch zu dem
zweimonatigen Landaufenthalt verordnet hat.
Es ist schoen hier, das ist alles, was zaehlt, zaehlen soll.
Die Tage werden immer heisser, erreichen Rekordtemperaturen. Wenn
Alice ihr Fruehstueck holt, in dem kleinen Laden, der alles in
einem ist: Lebensmittelhaendler, Fleischer, Baecker, Trafik, wirft
sie manchmal einen schraegen Blick auf die Schlagzeilen der
Zeitungen. Es ist in ihnen nur mehr von der ueberraschenden Hitze
die Rede. Die Hitze hat es geschafft, die Kriege und Katastrophen
zu verdraengen. Seit die Wetterwerte aufgezeichnet werden, haette
es nicht so eine lange Serie von Hitzetagen gegeben, wird heute
gemeldet. Alice ueberlegt, ob sie das Blatt kaufen soll, das
interessiert sie. Dann legt sie es aber doch aus der Hand. Es tut
ihr nicht gut, Zeitung zu lesen, hat sie in den letzten Wochen
festgestellt. Die Lektuere hinterlaesst bei ihr jedesmal ein
verwirrtes Gefuehl einer Endzeitstimmung, das so gar nicht zu dem
Frieden und der Schoenheit der Landschaft passt, und sie deswegen
umso haerter trifft. Dem will sie sich nicht mehr aussetzen, wozu
auch. Das, was auf der Welt vorgeht, geht auch, ohne dass sie
davon Kenntnis nimmt, vor, und ihre Kenntnisnahme wuerde, im
Gegenzug, auch nichts daran aendern.
Die Hochglanzzeitschriften laesst sie sich gefallen. Die kauft sie
sich. Maerchenbuecher der Moderne, nennt Alice sie. Sie laesst
sich gern entfuehren in eine Welt, wo es das Wichtigste ist, was
man jetzt anzieht, wie man sein Gesicht faltenlos haelt und seinen
Koerper straff. Von den Buechern, die sie nie Zeit haben wird zu
lesen, kriegt sie dort auch wenigstens eine Inhaltsangabe.
Jetzt haette sie ja Zeit, all die Buecher zu lesen, die sie seit
Jahren interessiert kauft, und die dann ungeoeffnet in den Regalen
stehen bleiben, nachdem sie monatelang auf ihrem Nachttisch Staub
gefangen hatten. Alice hat einen ganzen Stapel davon eingepackt.
Was soll man denn sonst tun am Land, hatte sie sich gedacht.
Was genau sie in den drei Wochen getan hat, koennte Alice jetzt
gar nicht mehr sagen. Lesen war jedenfalls nicht ihre
Hauptbeschaeftigung gewesen. Die Tage waren vergangen, einfach so,
in ihr ungekannter Harmonie ineinander geflossen. Sie war
aufgestanden, hatte sich ihr Fruehstueck geholt, war damit auf der
Terrasse gesessen, hatte ueber den See geschaut, war
spazierengegangen, hatte kleine Dinge im Haushalt erledigt, war in
der Sonne gelegen, hatte gedoest, hatte geschwitzt, war unter die
Dusche gegangen, hatte sich neu mit Sonnenoel eingecremt und ihrem
Herrgott gedankt, dass es auch so sein kann.
Den Weidenkorb mit ihren Einkaeufen schwingend geht Alice ueber
die Wiese, die zu dem Haus fuehrt. Sie mag diesen morgendlichen
Weg. Ihre schlaftrunkenen Schritte, das nicht ganz bei sich sein,
waehrend sie durch die duennen Riemen ihrer Schuhe den Tau spuert.
Undenkbar, dass sie je in der Stadt um diese Zeit so wohlig
unterwegs waere. Hier wacht sie manchmal gegen vier Uhr morgens
auf, mit der Sonne.
Eine Weile braucht Alice um herauszufinden, was sie stoert: die
Wiese ist nicht mehr feucht heute. Das wird ein noch heisserer Tag
als gestern, wenn das schon so anfaengt, denkt sie sich. Sie
braucht Erklaerungen, wenn etwas nicht mehr so ist, wie sie es
gewohnt ist. Alice ist angewiesen darauf, sich an etwas gewoehnen
zu koennen, und kann es nicht leiden, wenn sich daran etwas
aendert.
Dass sie es heute doch hinnimmt, muss an der Hitze liegen, die ihr
Gehirn aufweicht. Ihr mit dem Schweiss die Starrheit aus der Haut
treibt. Sie weich und fuegsam werden laesst, wie sie sich noch nie
erlebt hat.
Sie zieht die Gartentuer auf und hat es eilig, in die Kueche zu
kommen. Der Kaffee muss laengst fertig sein. Sie hat es sich zur
Gewohnheit gemacht, die Kaffeemaschine, die extrem langsam
arbeitet, beim Verlassen des Hauses einzuschalten. Etwa so lang,
wie Alice fuer den Weg braucht, braucht auch die Maschine, um die
Kanne zu fuellen. Dieses Timing gefaellt ihr, das sind Reste der
Praezision, die sie schaetzt. Es hat auch was von erwartet werden.
Ein Gefuehl, das Alice fast aufgehoert hat, zu vermissen.
Fast.
Sie gibt alles, was sie fuer ihr Fruehstueck braucht, auf das
Tablett und schleppt es auf die Terrasse. Erst, als sie es
draussen auf dem Tisch ausbreitet, faellt ihr auf, dass Wurst und
Gebaeck im Papier da liegen, dass sie vergessen hat, sie auf einen
Teller und ins Koerbchen zu geben. Alice beschliesst, es einmal so
zu probieren, und kommt sich verwegen und verwahrlost dabei
vor.
Immerhin ist das ein weiterer Schritt in einer Reihe von
Schritten, die aeusserst ungewoehnlich fuer die ausnehmend
korrekte, penible und disziplinierte Alice sind:
sie verwendet kein make up mehr, laeuft den ganzen Tag barfuss
herum; wenn sie nicht im Badeanzug ist, greift sie nach dem
naechstbesten Kleidungsstueck. Reglos sieht sie dem, in der Stadt
aufgetragenen, Nagellack beim abblaettern zu. Ihre Haare laesst
sie durchfetten, bis die nur mehr in traurigen Schnueren vom Kopf
haengen. Sie hat aufgehoert, ihre Achseln und Beine zu
rasieren.
Es ist ihr voellig egal geworden, wie sie aussieht, und sie fuehlt
sich sauwohl dabei. Sauwohl ist auch kein Wort, das irgendwer mit
Alice in Zusammenhang bringen wuerde, der sie kennt. Manchmal,
wenn sie im voruebergehen einen Anblick von sich im Spiegel
erhascht, muss sie grinsen, und stellt sich vor, was ihre Freunde
wohl sagen wuerden, wenn sie sie so saehen. Oder gar ihre Kollegen
und die anderen Leute im Gerichtssaal.
Hier sieht sie aber niemand.
Ausser den Leuten im Dorf, aber die zaehlen nicht, denn die kennt
Alice nicht, und sie kennen Alice nicht. Vor ihnen braucht sie
keine Rolle zu spielen, weg mit Euer Ehren.
Erst jetzt, als das wegfaellt, merkt Alice, was fuer eine Last das
fuer sie ist. Wie krumm sie unter ihr geworden ist. Wie einem das
aber auch in Fleisch und Blut uebergehen kann, was die Leute von
einem denken. Frau Richterin, sagen sie, und Alices Geist wird
willig, ihr Fleisch wird schwach unter der Buerde ihres Amtes. Ein
fleischgewordener Moralkodex, ein wandelndes Buergerliches
Gesetzbuch, auch wenn sie die Robe auszieht, und in ihre
modisch-eleganten, dezenten Kostueme und in die hochhackigen
Schuhe schluepft.
Alice beginnt Rumpelstilzchen zu verstehen, das sich auch in der
Mitte auseinander reissen muss, wenn jemand seinen Namen weiss.
Ach wie gut, dass niemand weiss, beginnt Alice aufgekratzt auf der
Terrasse vor sich her zu sagen: Ach wie gut, dass niemand weiss,
dass ich Richterin bin und Alice heiss.
Grinsend betrachtet sie ihre Zehennaegel, von denen ebenfalls der
Lack absplittert, und die Hornhaut auf ihren Sohlen, die sich
durchs Barfusslaufen gebildet hat, in der sich der Staub schwarz
eingegraben hat und auch beim duschen nicht ganz weggeht.
Ich vergesse das Buergerliche Gesetzbuch, beschliesst Alice, und
unterwerfe mich den Gesetzen der Natur!
Sinnend schaut sie den weissen Segeln des Bootes nach, das heute,
wie schon seit ein paar Tagen, immer um dieselbe Stunde seine
Runden im See zieht. Auch daran beginnt sie sich zu gewoehnen. Sie
fragt sich, wer das Boot wohl lenkt. Es muss vermutlich ein Mensch
sein, der feste Gewohnheiten ebenso schaetzt, wie sie.
Das Telefon klingelt sie aus ihren Ueberlegungen. Schon so spaet?,
denkt sie unwillkuerlich; denn der einzige Mensch, der hier
anruft, ist ihre Mutter, die die Pause zwischen zwei der
Vormittagsfernsehserien, die sie taeglich sieht, dazu benutzt, um
ihrer Tochter Vorhaltungen zu machen.
Warum sie nicht zu ihr ins Haus gekommen sei, fragt sie taeglich.
Was taete sie denn so allein in dieser fremden Gegend? Oder sage
sie ihr etwa nicht die Wahrheit? Sei sie etwa gar nicht allein
dort? Habe sie etwa schon wieder einen Mann gefunden, mit dem sie
sich dort verkrieche? Einen Mann, den sie ihrer Mutter nicht
vorstellen koenne, und der daher gar nicht in Betracht kaeme?
Ich bin seit geraumer Zeit erwachsen, Mutter, sagt Alice taeglich.
Ich weiss nicht, sagt ihre Mutter darauf veraergert. Alice weiss
es zu schaetzen, dass die Pause zwischen zwei Fernsehserien nie
laenger als zehn Minuten ist. Selbst zehn Jahre wuerden nicht
ausreichen, um ihrer Mutter begreiflich zu machen, dass sie gern
allein ist, und dass zwei gescheiterte Beziehungen in der heutigen
Zeit und bei ihrem Alter geradezu laecherlich brav sind.
Diesmal ist es aber eine fremde Frauenstimme, die sich als
Elisabeth Greifenstein vorstellt, eine alte Freundin von Max und
Sabine. Sie habe schon soviel von Alice gehoert, und erst gerade
aus einem Brief erfahren, dass sie jetzt das Haus bewohne. Diese
Gelegenheit wolle sie nicht verstreichen lassen. Sie muessten sich
einfach treffen. Das ist sehr freundlich von Ihnen, sagt Alice mit
abwiegelnder Hoeflichkeit.
Sie kann sich zwar auch an hymnische Schilderungen erinnern, die
Sabine ueber Elisabeth losgelassen hat, aber der Gedanke, sich
anziehen und herrichten zu muessen, sich ins Auto setzen und bei
wildfremden Leuten Honneurs machen zu muessen, entspricht ganz und
gar nicht ihrer Stimmung.
Hoeren Sie, sagt Elisabeth mit einer Stimme, die keinen
Widerspruch duldet: Sie kommen heute abend! Wir geben ein kleines
Essen, ganz zwanglos. Sie werden sich wohlfuehlen. Es kommt eine
handverlesene Schar der interessantesten Menschen, die sich gerade
hier in der Gegend aufhalten.
Heute abend passt es mir schlecht, protestiert Alice klaeglich.
Sie sind beleidigt, weil wir Sie so spaet einladen, vermutet
Elisabeth: aber ich versichere Ihnen, ich habe wirklich erst
gerade eben von Ihrer Anwesenheit erfahren und sofort zum Telefon
gegriffen. Nein, nein, stammelt Alice und zermartert ihr Hirn nach
einer guten Ausrede.
Dann kommen Sie also!, stellt Elisabeth fest und daran ist
offenbar nicht zu ruetteln: Um Acht. Kennen Sie den Weg? Wie dumm
von mir, natuerlich kennen Sie ihn nicht. Haben Sie Papier und
Bleistift zur Hand? Im Grund ist es nicht schwer zu finden, aber
beim ersten Mal werden Sie ein paar Anhaltspunkte brauchen...
Veraergert schiebt Alice den Zettel mit der Wegbeschreibung von
sich. Sich so ueberrumpeln zu lassen! Der ganze Tag ist ihr
verdorben. Missmutig traegt sie das Geschirr in die Kueche. Den
kaltgewordenen Kaffee schuettet sie in den Ausguss, und laesst
gleich darauf warmes Wasser nachfliessen, um das Geschirr zu
spuelen, das sich schon seit ein paar Tagen im Ausguss sammelt.
Geschirr spuelen tut ihren Nerven immer gut.
Als sie den letzten Teller in das Trockengestell schiebt, ist ihr
Aerger auch fast verflogen. Bis sechs habe ich noch Zeit fuer
mich, rechnet sie. Es genuegt, wenn ich um sechs anfange, mich
herzurichten und zwischen viertel und halb acht das Haus verlasse.
Bis sechs werde ich jedenfalls gar nicht mehr daran denken.
Dieser Entschluss tut ihr gut. Zumindest ist sie jetzt bereit, den
Tag wie immer zu verbringen.
Sie geht ins Bad, oelt sich von oben bis unten ein, zieht den
Badeanzug an, schnappt sich ein Handtuch, die neueste Vogue und
ihre Zigaretten, und marschiert ab zu ihrem geliebten
Bootssteg.
Die Hitze wird von Stunde zu Stunde gluehender und drueckender.
Alice kann ihre Stellung nicht mehr veraendern, ohne ein schoenes
Stueck zu rutschen, derartig rinnt ihr Schweiss und bildet mit dem
Sonnenoel einen Gleitteppich.
Den Versuch zu lesen hat sie nach zehn Minuten aufgegeben. Die
Blaetter der Zeitschrift glitzern mit den Wellen um die Wette und
verursachen ihr bald Kopfschmerzen. So legt sie das Gesicht auf
die Arme, liegt ganz still und laesst sich vom Plaetschern der
Wellen wiegen. Irgendwann steht sie auf, ohne die Augen richtig zu
oeffnen, und laesst sich ins Wasser gleiten. Bleibt unter Wasser,
so lange es ihre Lungen erlauben. Mit muehelosen Stoessen schwimmt
sie, wie ein Delphin fuehlt sie sich. Sie wuenscht sich die
Faehigkeit, kraftvoll aus dem Wasser aufzusteigen und mit der
Schwanzflosse aufrecht stehend pfluegen zu koennen. Weil sie kein
Fisch ist, muss sie sich mit weit unaesthetischeren Versuchen
begnuegen.
Sie schwimmt, bis sie muede ist. Zieht sich mit letzter Kraft und
schon zitternden Muskeln zurueck auf den Bootssteg. Betrachtet
dort ihre schrumpelig gewordenen Fingerspitzen. Sogar die Haut der
Handteller ist so ausgelaugt, dass scharf seine Linien
hervortreten. Eine Gaensehaut der Erschoepfung ueberlaeuft
sie.
Schnell hat die sengende Sonne das Wasser von Alices Haut
verdunstet, nur der Badeanzug klebt unangenehm nass an ihr. Sie
ist viel zu muede, um jetzt aufzustehen und ins Haus
zurueckzugehen, um ihn gegen einen trockenen auszutauschen. Im
Liegen schiebt sie die Traeger runter, zieht das Ding ueber ihre
Brueste, befreit sich mit einem Ruck davon.
Niemand, der sie mit freiem Auge sehen koennte, stellt Alice bei
einem Rundblick fest. In ziemlicher Entfernung das Segelboot, aber
die Mannschaft muesste schon ein Fernglas haben, um etwas zu
sehen. Viel zu angenehm ist es, die Sonne auf der Haut zu spueren,
als dass Alice sich von Unwahrscheinlichkeiten einschuechtern
lassen moechte. Und doch muss sie einen leichten Trotz aufbringen,
der es ihr erlaubt, nackt zu bleiben, sich auszustrecken, ihren
Koerper der Sonne darzubieten.
Sie schliesst die Augen, ueberlaesst sich ganz den angenehmen
Empfindungen, die Sonne und Wind auf ihrer Haut erzeugen. Kein
Liebhaber hat so sanfte Haende, so eine Zaertlichkeit, solche
Geduld! Und doch, wenn sie da so liegt, so hingegeben, kommt,
frueher als gedacht, der Wunsch nach staerkerer Beruehrung in ihr
auf. Wird so heftig, dass sie die Beine zusammenpressen muss. Das
Verlangen durchflutet sie so stark, dass es ihr peinlich wird.
Wehret den Anfaengen, denkt sich Alice, wer weiss, wohin mich das
fuehrt, wenn ich das aufkommen lasse.
Schnell greift sie nach dem Handtuch und wickelt es um sich.
Tastet nach dem Badeanzug, der nur noch geringe Feuchtigkeit
aufweist, und zieht ihn unter dem Handtuch wieder an.
Aufgeschreckt von ihren Empfindungen sitzt Alice da, hat die Knie
ans Kinn gezogen und zuendet sich eine Zigarette an. Mit
gerunzelter Stirn schaut sie dem Rauch nach, wie er ueber das
Wasser zieht und sich bald ins Unsichtbare aufloest.
Wohin verschwinden Dinge, wenn sie sich aufloesen?, fragt sich
Alice.
Ihre Hydrophobie hat sich aufgeloest, wird ihr erst jetzt bewusst.
Sie hat ihre uralte Angst vorm ertrinken verloren.
Ihre innere Uhr sagt ihr, dass es bald sechs sein muss. Zeit,
zurueck ins Haus zu gehen, sich fertig zu machen. Sie sammelt ihre
Sachen ein und macht sich auf den Weg.
Das Radio dreht sie auf, bevor sie ins Badezimmer geht, dreht es
so laut, dass sie muehelos zuhoeren kann. Ein Lied trifft sie in
den Ruecken, als sie dabei ist, das Zimmer zu verlassen. All of
me, singt Ella Fitzgerald. All of me, why not take all of me,
can't you see, that I'm no good without you...
Das Lied frisst sich an Alice fest, weicht nicht von ihr, wieder
und wieder muss sie die Zeilen singen. Waehrend sie die Packungen
auf Gesicht und Haar auftraegt, waehrend sie unter der Dusche
steht, waehrend sie Creme in ihren Koerper reibt. Sie summt es,
waehrend sie den alten Lack von ihren Naegeln reibt, sie feilt und
neu lackiert. Froehlich und erwartungsvoll macht es sie, aber auch
ein bisschen wehmuetig. I'm no good without you, traegt sie
Grundierung auf ihr Gesicht auf, bevor sie den Foehn einschaltet,
sodass sie besser in die Haut einzieht und natuerlicher
aussieht.
Lange steht sie vor dem Kleiderschrank und ueberlegt, womit sie
sich gut und selbstverstaendlich fuehlen kann; ohne eingezwaengt,
aber auch ohne underdressed zu
sein. Fuer ein leichtes, gruenschimmerndes Seidenkleid entscheidet
sie sich. Ein raffiniert einfach geschnittenes Modell. Suendteuer
einfach.
Herrlich schoen fuehlt sich Alice, als sie nach getaner Arbeit
pruefend in den Spiegel schaut. Weich, glaenzend und schimmernd
sieht sie aus. Why not take all of me.
Beschwingt startet sie ihren Wagen und findet muehelos das Haus
der Greifensteins. Die Angaben von Elisabeth waren praezise und
unmissverstaendlich, stellt Alice befriedigt fest und gibt ihr
dafuer einen grossen Pluspunkt. Unglaublich, welche Angaben Leute
manchmal machen; als ob sie einen bewusst in die Irre schicken
wollten. Das Haus ist beeindruckend, aber nicht niederschmetternd.
Die Frau, die ihr die Tuer oeffnet, gefaellt Alice auf Anhieb.
Etwas Vertrautes geht von ihr aus, als ob sie sich schon jahrelang
kennen wuerden. Das sind Alice die liebsten Menschen.
Elisabeth duerfte es aehnlich gehen. Sie fasst Alice unter den
Arm, als ob sie alte Freundinnen waeren, und geleitet sie unter
selbstverstaendlichem Geplauder zu den anderen.
Alice wird vorgestellt, bekommt erklaerende Beschreibungen zu
jedem. Fuer sie hat Elisabeth das Kurzlogo" eine gute Freundin von
Max und Sabine, die jetzt ihr Haus bewohnt, und somit auch bald
unsere gute alte Freundin sein wird" gefunden. Alice ist ihr sehr
dankbar, dass sie die Richterin weglaesst.
Elisabeth ist wirklich dabei, im Sturmschritt ihr Herz zu erobern,
denn nichts hasst Alice mehr, als das mehr oder minder merkbare
Zurueckzucken der Menschen bei Nennung ihres Berufes. Entweder
werden sie devot oder aggressiv, hat Alice in langen, leidvollen
Jahren gelernt. Es braucht lang, bis sie wieder einen normalen Ton
mit ihr finden, und sie hasst es, sich immer wieder durch
Vorurteile und Aengste durchkaempfen zu muessen.
Das bleibt ihr heute erspart. Heute reagieren die Menschen auf das
Wort Freundin und auf das Weiche, Geloeste, das von Alice ausgeht.
Elisabeth hat recht gehabt mit ihrer Prophezeiung, sie fuehlt sich
wohl, und deswegen ist sie auch bereit, die anderen interessant zu
finden. Es ist die uebliche Mischung, die man einlaedt, wenn man
interessante Menschen zusammenstellen will: ein Wissenschaftler,
ein Schriftsteller, eine Malerin, eine Astrologin, ein
Boersenmakler, ein Architekt, eine Aerztin und sie.
Zehn Personen macht das, mit dem Ehepaar Greifenstein. Eine
ueberschaubare Runde, die da am Esstisch versammelt ist.
Ob sie um die Bedeutung der Zahl Zehn wuessten, fragt die
Astrologin in die Runde, und gibt an, sich auch schon lange mit
Numerologie zu beschaeftigen.
Die anderen schweigen hoeflich oder geben aufmunternde, fragende
Geraeusche von sich.
Zehn ist die Zahl des Schicksalsrades, beginnt die Astrologin zu
dozieren: Sie ist eine Zahl des Aufstiegs und des Falls, je nach
persoenlichem Verlangen. Sie kann Gutes und Boeses bringen, je
nachdem, fuer welche Handlungsweise man sich entscheidet. Die Zahl
Zehn kann extreme Reaktionen von Liebe und Hass, von Respekt oder
Furcht ausloesen. Zwischen Ehre und Unehre gibt es nichts. Mit ihr
haelt man den Schluessel in der Hand. Imaginiere zehn, dann ordne
an; lautet eine alte, esoterische Regel. Imaginiere, und es wird
geschehen. Befiehl, und es wird sich materialisieren. Eine
ungeheure Macht ist mit ihr verbunden, die schoepfen, aber auch
zerstoeren kann, daher erfordert ihre Anwendung hoechste
Selbstdisziplin und Reinheit.
Und man muss sich bewusst sein, dass nichts mehr so ist, wie es
war, wenn man sie angewendet hat, schliesst sie nach einer
Kunstpause ihre Erlaeuterungen ab.