Die Runde verharrt fuer eine Weile
in gedankenvollem Schweigen. Eine tiefe, melodioese Stimme hat die
Astrologin, in der sie ferne Welten mitschwingen lassen kann und
das Unglaubliche in die Luft malt. Alle ueberlegen, was sie wohl
befehlen wuerden, wenn sie diese Macht haetten, aber als der
Schriftsteller das zum Tischgespraech machen will, weist ihn die
Astrologin scharf zurecht. Die Imagination gelingt nur im
Schweigen, sagt sie ihm, Sie duerfen sie nicht profanisieren. Was
Ihnen am wichtigsten ist, muessen Sie in sich behalten und
naehren. So lange, bis es Ihnen von aussen entgegen zu kommen
beginnt.
Der Schriftsteller will protestieren, haelt dann aber inne. Ja,
gibt er zu, das ist auch beim schreiben so. Wenn Sie ueber ein
Werk reden, bevor Sie es vollendet haben, ruinieren Sie es. Reden
Sie ueber etwas, das Sie gerade schreiben, entziehen Sie ihm die
Energie, die es braucht, um zu wachsen. Je mehr sie darueber
reden, umso weniger werden Sie es zu Ende bringen.
Das scheint ein allgemeines Lebensgesetz zu sein, mischt sich der
Wissenschaftler ein. Mit der Entwicklung der Chaostheorie gelingt
es jetzt ja nachzuweisen, dass alles miteinander verbunden ist.
Dass Gesetze, die sie in der Physik vorfinden, ebenso in der
Meteorologie als auch in der Medizin gelten, in der Wirtschaft
genauso, wie in der Psychologie.
Ich bitte um Verzeihung, erhebt der Boersenmakler spoettisch seine
Stimme, ich wage zu behaupten, dass sich die Boerse diesem Gesetz
widersetzt. Das Fallen und Steigen der Aktienkurse haengt in nicht
unerheblichem Mass von Geruechten ab; davon dass die Leute ueber
was reden, das laengst noch nicht vollendet ist. Und wenn Sie
Gewinn an der Boerse machen wollen, muessen Sie eben genau mit
diesen Entwicklungen spekulieren. Es hat keinen Sinn und wird
Ihnen, als Profi, meine ich natuerlich, nicht viel bringen, wenn
Sie erst dann auf den Zug aufspringen, wenn schon allen klar ist,
wo er hinfaehrt. Als Profi muessen Sie aufspringen, wenn die
anderen noch nicht einmal wissen, dass das der Zug ist, der
demnaechst abfaehrt.
Natuerlich wollen jetzt alle wissen, ob er einen Tip hat, was der
naechste Zug sein wird. Ein handfester Boersentip ist allemal
interessanter, als Zahlengeheimnisse.
Zahlen sind auf der Habenseite des eigenen Kontos am besten
aufgehoben, darueber ist man sich schnell lachend einig.
Ergrimmt beugt sich die Astrologin ueber ihren Teller. Alice
sieht, dass sie mit ihren Bissen auch noch einiges anderes mit
hinunterschluckt.
Sie selber weiss nichts zu sagen, hat sich noch nie mit diesen
Themen beschaeftigt. Es macht ihr nichts aus, zu schweigen und
zuzuhoeren. Sie macht sich auch gar keine Sorgen, ob jemand sie
etwa fuer beschraenkt haelt; sie weiss genau, dass in einem Kreis
brillanter Redner nichts so dringend benoetigt wird, wie einer,
der zuhoert. Derjenige, der zuhoert, wird bald der Mittelpunkt, um
den sich alles dreht, denn er ist es, durch den der Redner seinen
Glanz bekommt. Alice ist sich dieser Macht wohl bewusst.
Leider kommt es anders, als sie denkt, denn das war auch schon das
Ende des allgemeinen Gespraeches. Verschiedene Gespraechsfaeden
beginnen durcheinander zu laufen; Menschen, die sich etwas zu
sagen haben, oder es meinen, verknuepfen sich miteinander. Nur an
Alice laufen sie vorbei, denn ihr Tischherr, der Architekt,
schaufelt verbissen schweigend in sich rein.
So ist Alice froh, als endlich, nach dem Dessert, Elisabeth
vorschlaegt, doch den Rest des Abends im Garten zu verbringen. Sie
haetten eine kleine Bar draussen aufgebaut, man solle sich doch
selbst bedienen.
Alice steht auf und prallt gegen den Kopf des Boersenmaklers, der
sich gerade nach vor gebeugt hat, um ihr mit dem Stuhl behilflich
zu sein. Sie hatte ihn nicht einmal bemerkt. Beide murmeln
zugleich eine Entschuldigung und gehen nebeneinander in den Garten
hinaus.
Ob Sie mir wohl erlauben werden, Ihnen ins Wunderland zu folgen,
Alice?, fragt er und beugt sich nah zu ihr hin.
Alice verzieht den Mund. Warum auch jeder halbwegs gebildete Mann
versucht, ihr mit diesem Spruch zu kommen! Aber da ist etwas in
seinem Blick, das draengt und brennt, und sie instinktiv
erschrecken laesst. Sie will zurueckweichen und etwas zieht sie zu
ihm hin.
Wissen Sie nicht, dass man allein sein muss,um ins Wunderland zu
kommen?, sagt sie, und ist fassungslos ueber die Bitterkeit in
ihrer Stimme. Was treibst du?, schreit eine Stimme warnend in ihr:
Halt dich bedeckt, was faellt dir ein, dich einem Fremden
dermassen schamlos zu oeffnen!
Wenn das so ist, werde ich Ihnen ein Wunderland bauen, in dem das
nicht noetig ist, schlaegt er vor: Eines, das natuerlich Platz
fuer mich hat. Fuer einen harten Boersenmakler sind Sie ganz
schoen romantisch!, versucht Alice mit Spott ihre Haltung
wiederzugewinnen. Ich bin nicht hart, behauptet er, ich bin nur
darauf trainiert, gute Chancen zu erkennen und sie zu nutzen.
Welche Chance sehen Sie jetzt?, fragt Alice . Sie!, sagt er
bestimmt: Gleich als ich Sie sah, wusste ich, dass Sie die Frau
sind, auf die ich immer gewartet habe. Aber Sie kennen mich doch
gar nicht, antwortet Alice.
Sie kommt sich daemlich vor, der Situation ganz und gar nicht
gewachsen. So etwas passiert einem doch nicht im wirklichen Leben!
So etwas sieht man im Film und seufzt und wuenscht sich, dass
einem das auch einmal passiert. Aber dass es dann passiert, damit
kann man doch wirklich nicht rechnen.
Ich kenne Sie besser, als Sie glauben, behauptet der Mann. Wieso?,
fragt Alice unsicher.
Seit Tagen fahre ich in meinem Boot an Ihrem Haus vorbei und
beobachte Sie, wie Sie auf Ihrer Terrasse sitzen und
fruehstuecken, sagt er: Glauben Sie mir, am Besten lernt man einen
Menschen kennen, wenn er sich unbeobachtet glaubt und so ganz bei
sich selbst ist. Voellig unbeeinflusst von dem, der ihn
beobachtet. Das ist ja unerhoert!, empoert sich Alice: Hat Ihnen
Ihre Mutter nicht beigebracht, dass man so etwas nicht tut? Wenn
ich mich an das gehalten haette, was mir meine Mutter erlaubt hat,
waere ich nicht der, der ich heute bin, stellt er lachend fest.
Und wie sind Sie heute ?
Unverschaemt, erfolgreich und verliebt!, sagt er und versucht,
Alice in seine Arme zu ziehen.
Alice wird steif und stoesst ihn gereizt von sich. Was sollen denn
die anderen von ihr denken, wenn sie sich so einfach von einem
wildfremden Mann betapschen laesst! Unverschaemt stimmt auf jeden
Fall. Und die anderen sind so in ihre Gespraeche versunken, dass
niemand sie beobachtet.
Aber das hatte sie ja auch geglaubt, als sie am Nachmittag nackt
am Bootssteg gelegen war, faellt ihr jetzt ein, und treibt ihr den
Schweiss auf die Stirn.
Es ist unfair, dass Sie mehr von mir wissen, als ich von Ihnen,
stellt Alice fest.
Das laesst sich aendern, sagt der Mann, ich hoffe sogar sehr, dass
sich das aendert.
Er greift in die Innentasche seines Jacketts und zieht eine
Visitenkarte heraus, die er Alice mit einer formellen Verbeugung
ueberreicht. Beginnen wir mit dem Anfang, sagt er dazu.
Alice greift nach der Karte. Handgerissenes Buetten, Stahlstich.
Horst von Balow, steht da in sehr aufrechten Lettern, dazu der
Name einer Firma und eine Adresse in Frankfurt. Alice ist
beeindruckt.
Fragen Sie mich, was immer Sie wollen, bietet er an. Ich weiss
nicht was, sagt Alice zoegernd. Gut, dann fragen Sie mich, ob Sie
mich noch wohin bringen koennen, schlaegt er vor.
Wieso?, fragt Alice verbluefft.
Weil Sie erstens einen Wagen haben, zweitens ich noch irgendwo mit
Ihnen etwas trinken moechte und drittens schon ein allgemeiner
Aufbruch beginnt.
Alice blickt um sich. Er hat recht! Die Gaeste umringen die
Greifensteins, schuetteln Haende und geben Danksagungen und
Abschiedsfloskeln von sich. Und sie ist noch nicht einmal dazu
gekommen, sich mit ihren Gastgebern zu unterhalten! Die werden
einen schoenen Eindruck von ihr haben!
Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!, sagt Alice anklagend zu
Horst: Sie haben mich dermassen mit Beschlag belegt, dass ich den
primitivsten Forderungen der Hoeflichkeit nicht nachkommen konnte.
Ich hoffe, das wird so bleiben, antwortet Horst grinsend, ohne die
geringste Spur von Schuldgefuehl zu zeigen.
Abrupt wendet ihm Alice den Ruecken zu, erstaunt, ueber die
Heftigkeit ihrer Gefuehle, ueber die Naehe, die sie zu diesem Mann
empfindet, ueber den Ton, den sie ihm gegenueber anschlaegt.
Schau, dass du schleunigst wegkommst, draengt eine Stimme in
ihr.
Sie naehert sich Elisabeth, die auch gleich die Hand nach ihr
ausstreckt. Amuesieren Sie sich?, fragt die Gastgeberin. Es war
ein wundervoller Abend, bestaetigt Alice verlegen, ich bedaure
nur, dass wir keine Gelegenheit gefunden haben, uns ausfuehrlicher
zu unterhalten.
Jetzt, wo wir uns kennen, ist das kein Problem mehr, versichert
Elisabeth, Sie werden jetzt oefter kommen, das muessen Sie mir
versprechen. Ich rufe Sie morgen an.
Alice wendet sich zum gehen. Sie kann Horst nirgends mehr sehen.
Wo ist er wohl hin verschwunden? Betaeubt, in einer Mischung von
Erleichterung und Enttaeuschung geht sie zum Parkplatz.
Er wollte wohl nur ausprobieren, wie weit er bei mir gehen kann,
sagt sich Alice. Ein Voyeur, der sehen will, aber nicht involviert
werden. Vielleicht macht es ihm Spass, zu provozieren, und die
Menschen aus der Fassung zu bringen. Vielleicht hasst er auch
Frauen. Ich kann froh sein, dass er weg ist, wer weiss, was mir
damit erspart bleibt! Sie ist aber nicht froh.
Sie sperrt ihren Wagen auf und bleibt, mit der Hand an der
Tuerschnalle, fuer einen letzten Rundblick stehen. Nichts. Nur
startende Wagen, die ihre Scheinwerfer aufblenden und abfahren.
Vielleicht sitzt er in einem von denen, denkt Alice, vielleicht
zieht er diese Masche grad bei der Aerztin oder bei der Astrologin
ab.
Schnaubend oeffnet sie die Tuere und laesst sich hinter das
Lenkrad fallen. Startet und faehrt dem letzten Wagen nach, der
eben den Parkplatz verlaesst. Ueberlaesst sich ihren bruetenden
Gedanken. Nach einer Weile werden die ihr aber zu laut. Sie stellt
das Radio an, um sie zu uebertoenen. All of me, singt Ella
Fitzgerald. Das hat mir gerade noch gefehlt!, sagt Alice laut und
wuetend. Sie beugt sich nach vor und dreht den Radio ab. Es macht
ihr Spass, mitten in ein Wort zu wuergen.
Warum drehen Sie ab?, fragt eine Stimme vom Ruecksitz: Mir
gefaellt das Lied!
Erschrocken tritt Alice auf die Bremse. Der Wagen haelt mit einem
Ruck, der sie gegen das Lenkrad presst. Sie stemmt sich hoch und
dreht sich um. Starrt direkt in das Gesicht von Horst, der sie
schon wieder unverschaemt angrinst.
Wie kommen Sie in meinen Wagen?, fragt sie fassungslos: Der war
doch abgesperrt.
Ich hab da so meine Tricks, tut er geheimnisvoll. Sind Sie etwa im
Nebenberuf Autodieb?
Nur vergesslich, was die kleinen Dinge des Lebens betrifft,
beruhigt er sie: Ich habe so oft meine Wagenschluessel stecken
lassen, dass der Mann vom Aufsperrdienst Mitleid mit mir hatte,
und mir zeigte, wie ich auch ohne Schluessel in mein Auto
komme.
Mit selbstverstaendlicher Geste klappt er den Beifahrersitz um und
klettert neben Alice. Macht es sich bequem und legt den Arm um die
Lehne ihres Sitzes.
Wohin jetzt?, fragt er munter.
Nirgendwohin, bescheidet ihm Alice, so fest sie nur kann: Ich bin
muede und will nach Hause!
Sie koennen mich doch nicht mitten auf der Landstrasse aussetzen!,
appelliert er an ihr soziales Verantwortungsgefuehl: Hier kriege
ich kein Taxi und sie werden doch nicht wollen, dass ich in einer
fremden Gegend, mitten in der Nacht, kilometerweit laufen muss!
Das geschaehe Ihnen nur recht, sagt Alice kuehl, fuehlt aber ihren
Widerstand schwinden: Ich habe Sie nicht eingeladen. Jeder muss
die Konsequenzen seines Verhaltens tragen!
Gemeinsam traegt es sich besser, findet Horst: Bringen Sie mich
wenigstens in mein Hotel und trinken Sie noch ein Glas an der Bar
mit mir.
Na gut, gibt Alice nach: Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen.
Ich bringe Sie in ihr Hotel. Aber nur, wenn Sie mir versprechen,
dort brav auszusteigen. Trinken werde ich nichts mehr mit Ihnen!
Und wenn ich es nicht verspreche?
Alice schuettelt missbilligend den Kopf, hat keine Lust auf
weitere Debatten. Sie wird ihn absetzen und damit Basta. Wo wohnen
Sie?
Im Hotel Seehof.
Natuerlich. Das beste Hotel in der Gegend. Alice kennt es. Sie
startet den Wagen, der bei ihrem Bremsmanoever abgestorben ist,
wendet und drueckt das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen
schiesst mit einem Satz los.
Vorsicht!, warnt Horst: Bringen Sie uns nicht um. Ich stelle es
mir zwar schoen vor, gemeinsam mit Ihnen zu sterben, wuerde es
aber vorziehen, wenn wir damit warten, bis wir ueber Achtzig sind.
Ja, ja, sagt Alice und reduziert die Geschwindigkeit.
Woher weiss er, dass das immer mein Traum war: einen Mann zu
finden, der sich wuenscht mit mir alt zu werden? Alt werden und
sterben und ineinanderwachsen als Hecke.
Wie unverbesserlich kitschig ich doch bin, schilt sich Alice,
vollgestopft mit Klischees!
Horst greift sich eine ihrer Haarstraehnen, wickelt sie um seinen
Finger und zieht dadurch leicht ihren Kopf in seine Richtung. Sie
tun wie ein Kueken, stellt er fest, aber eigentlich haben Sie das
Zeug zum Adler.
Ach ja, sagt sie: Woran sehen Sie das?
Ihr Blick geht in die Weite, diagnostiziert er sachkundig: Sie
sind faehig, hoch nach oben zu steigen und von dort auf die Erde
zu schauen. Ganz unberuehrt. Nichts, was Sie sehen, kann Ihren
Flug hemmen. Ein Fluegelschlag und Sie drehen ab.
Schoen waers, denkt Alice, das koennte ich gut brauchen. Hoch oben
sitze ich zwar am Richtertisch, aber nicht so hoch, dass mich der
Schmutz nicht beruehren wuerde. Freilich, frueher ist er mir ueber
den Kopf geschwappt, jetzt beruehrt er gerade noch meine
Fuesse.
Und wozu haben Sie das Zeug?, fragt Alice.
Sie will ihm nichts von ihren Gedanken und Gefuehlen verraten.
Dieser Mann erfasst sie ohnehin mit einer beunruhigenden
Praezision. Muehelos scheint er in ihre Gehirnwindungen eindringen
zu koennen und kennt sich da aus, als waere er zu Hause.
Wie mein Name sagt: ich bin der Horst fuer Adler. Ach, so ist das,
sagt Alice enttaeuscht.
Wieder so ein Spruch, denkt sie. Wahrscheinlich erzaehlt er das
auch jeder Frau. Und in ihr beginnt das Verlangen zu keimen, dass
er es ernst meint. Dass er es ernst meint, selbst wenn er das
jeder Frau erzaehlt. Dass sie die einzige Frau ist, bei der er
meint, was er sagt.
Was ist los?, fragt er: Haben Sie nie das Beduerfnis, sich
auszuruhen, ein Nest zu haben?
Freilich, sagt sie, das hat doch jeder.
Alice, wird er auf einmal streng: Sie machen es mir nicht leicht.
Was mache ich falsch, dass Sie so sproede und abweisend sind? Sie
machen nichts falsch, beruhigt sie ihn: Sie sind nur zu schnell
fuer mich. Ich kenne Sie doch ueberhaupt nicht und Sie sagen all
diese Dinge zu mir, ich weiss einfach nicht, wie ich darauf
reagieren soll. Sie fragen sich, ob ich es ernst mit Ihnen meine?
Ja, rutscht es ihr raus.
Wollen Sie, dass ich es ernst meine?
Das hat sie nun davon! Alice schweigt erbittert, sieht gar nicht
ein, warum sie Farbe bekennen und ihre Karten aufdecken soll. Was
redet er ueberhaupt staendig von ihr! Ueber sich verliert er kein
Wort!
Ich meine es ernst, sagt er nach einer Weile, in einem Tonfall,
als haette sie ja gesagt.
Erleichtert sieht Alice das Hotel vor sich auftauchen. Sie faehrt
direkt an die Rampe und haelt mit laufendem Motor. Er macht nicht
die geringsten Anstalten, auszusteigen.
Wir sind da, draengt sie.
Sie haben mir noch keine Antwort gegeben, bleibt er ganz ruhig
sitzen. Worauf?
Auf alles.
Hoeren Sie, sagt Alice, ergreift seinen Oberarm und schiebt ihn
Richtung Tuere: Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich gesagt
habe. Steigen Sie jetzt aus und lassen Sie mich darueber schlafen.
Wenn Sie wollen, koennen Sie mich ja morgen anrufen.
Er nimmt ihre Hand von seinem Oberarm, Alice denkt, er will sie
ihr zum Abschied kuessen und laesst sie ihm, ohne Widerstand. Das
nutzt er aus. Mit einer raschen Bewegung zieht er sie zu sich, so
dass ihr der Schaltknueppel in den Bauch sticht, und kuesst sie
heftig auf den Mund. Auch die Chance, dass Alice ihren Mund zum
protestieren oeffnet, laesst er nicht ungenuetzt verstreichen:
schon hat sie seine Zunge im Mund. Ein kleines, weiches Tier,
beweglich und zart. So freundlich und zutraulich, dass sie mit ihm
zu spielen beginnt, neckisch zuerst, dann immer wilder. Und als
Alice sich ganz fangen hat lassen, gibt er wieder das Tempo vor,
fuehrt sie und laesst sie los und faengt sie wieder und laesst in
ihr eine Sehnsucht wachsen, dass sie schreien moechte und ihn
anbetteln, bloss nicht aufzuhoeren.
Und er spuert es und laesst sie los. Alices Kopf bleibt an seiner
Schulter kleben, moechte nie wieder irgendwo anders sein. Da
gehoert sie her, alles andere ist doch Unsinn!
Komm!, sagt er in ihr Haar.
Ja, murmelt sie.
Sie weiss nicht, wie sie sich aufrichten soll. Ist nicht so
schraeg an seinen Koerper gelehnt sein ihre ganz natuerliche,
angeborene Koerperhaltung? Wie hat sie denn je auskommen koennen
ohne diesen Horst? Alle Schutzlosigkeit, die Alice jemals
empfunden hat, sammelt sich jetzt in ihr, bereit, in das Becken zu
fliessen, das er ihr hinhaelt. Wie hat sie je auskommen koennen
ohne das?
An das: Imaginiere und es wird geschehen!, der Astrologin muss
Alice denken.
Das war es, was sie in all den Jahren in sich getragen hat und
niemand sagen konnte. Das, was jetzt passiert, war in ihr, all die
Zeit. Und jetzt kommt es ihr von aussen entgegen! Deswegen geht
jetzt alles so rasch. So schnell geht das!
Und man muss sich bewusst sein, dass nichts mehr so ist, wie es
war, wiederholt sie die Worte der Astrologin.
Horst ergreift ihren Kopf, dreht ihr Gesicht zu ihm hin. Sein
Gesicht verschwimmt in ihren Augen. Seinen Blick spuert sie.
Ich will nicht mit dir ins Hotel, sagt er.
Alice erschrickt. Er wird sie jetzt doch nicht wegschicken! Nicht
jetzt, wo sie so offen und bereit fuer ihn ist, wie sie es noch
nie fuer einen Mann war. Unwillkuerlich haelt sie den Atem an.
Wartet bang. Er streichelt ihr Gesicht und laechelt. Sie wartet
auf einen Dolchstoss, haengt an seinen Lippen. Ihre Lippen muss
sie zusammenpressen. Nur nicht betteln!, muss sie ihnen
befehlen.
Nimm mich mit zu dir, sagt er, und sie atmet auf, wie sie noch nie
aufgeatmet hat.
Sie kann gar nicht anders als singen: Why not take all of me.
Schnell wendet sie den Wagen, bevor er es sich anders ueberlegen
kann. Heim will sie ihn bringen; in ihr Nest, das erst ein Nest
wird durch ihn. Wo er ist, ist zu Hause. In seinen Worten, seinen
Haenden, seiner Haut, findet sich Alice.
Ihre Finger hat sie in seine verschlungen, faehrt mit einer Hand,
und wenn sie schalten muss, tun es ihre beiden Haende, als waeren
sie schon immer miteinander verbunden. So gleichzeitig und ohne
Widerstand, als wuerden sie von einem Hirn gelenkt.
Kaum auszuhalten, die Minute, in der sie ihn doch auslassen muss,
um den Wagen abzustellen und auszusteigen.
Schon haben sie sich wieder, haelt er sie eng an seinen Koerper
gepresst, in den sie muehelos hineinfliessen kann. Auf das Haus
laufen sie zu, aber die Strecke ist zu lang.
So landen sie in der Wiese. Im Rollen, in der Begierde, Haut zu
spueren, loesen sich die Kleider auf. Ein Buendel von Haut und
Haaren, Schreien und Fluestern, Keuchen und Stoehnen sind sie. Und
lang dauert es, lang, bis Alice, auf dem Ruecken liegend, den
sternenuebersaeten Himmel wieder sieht.
Noch nie hat er so geglaenzt, das koennte sie schwoeren. Noch nie
haben sich die Sterne so gedraengt, haben fast die dunklen
Stellen, die ein Nachthimmel doch auch braucht, verdraengt. Warum
es Milchstrasse heisst, sieht sie heute ganz deutlich. Aber was
heisst Strasse! Heute ist das geradezu eine Autobahn.
Gluecklich laechelnd erwacht Alice in ihrem Bett, das sie erst im
Morgengrauen aufgesucht haben, als das Froesteln sie ungeschickt
zur Zaertlichkeit machte. Wie die Kinder hatten sie sich aufs Bett
geworfen und waren bibbernd unter die Decken gekrochen, hatten
spitze Schreie ausgestossen, wenn sie einander mit ihren eiskalten
Fuessen beruehrten. Geschichten aus ihrem Leben hatten sie
begonnen, einander zu zufluestern, eine nach der anderen, bis sie
einschliefen mitten in einem Wort und es weitertraeumten.
Wie spaet mag es wohl sein?, fragt Alice wohlig mit
halbgeschlossenen Augen.
Erst als sie keine Antwort bekommt, oeffnet sie sie ganz. Kein
Horst in ihrem Bett! Das reisst sie hoch. Mit einem Blick sieht
sie, dass er nicht im Zimmer ist. Laut seinen Namen rufend springt
sie auf und durchsucht das ganze Haus nach ihm. Vergeblich.
So landet sie schliesslich auf der Terrasse, aber auch da ist er
nicht.
Ich will mich nicht daran gewoehnen, dass du staendig
verschwindest, wenn ich es am wenigsten erwarte, ruft sie boese in
die Landschaft: Tu das nicht mit mir, das kann ich nicht
leiden!
Der Blick ueber den Zaun hat etwas Unvertrautes. Alice braucht
eine Weile, um drauf zu kommen, was es ist: ihr Auto steht nicht
da. Sie laeuft ins Haus zurueck und schaut auf die Kommode, auf
die sie normalerweise die Autoschluessel legt. Weg. Erschrocken
denkt sie nach, findet schliesslich die Loesung: er wird einkaufen
gefahren sein, um Fruehstueck fuer uns zu holen. Vielleicht wollte
er auch ins Hotel um sich umzuziehen. Sie muss kichern, als sie an
den Zustand seines vordem so gepflegten Abendanzugs denkt. Kein
Wunder, wenn er den so schnell wie moeglich austauschen wollte,
und dafuer eine Zeit gewaehlt hat, in der er noch ungesehen das
Hotel betreten kann!
Aber jetzt soll er sich beeilen, er sollte schon wieder da sein,
was soll Alice denn machen ohne seine Arme!
Unter die Dusche gehen, beschliesst sie nach einer Weile des
sehnsuechtigen Herumstehens. Oder vielleicht doch nur das Gesicht
waschen und seinen Geruch an ihrem Koerper behalten, bis er
wiederkommt und ihn durch neuen ersetzen kann.
Schnell ist das Gesicht gewaschen, schnell ein Kleid
uebergestreift, schnell die Haare gebuerstet. Wo bleibt er so
lang? Sie nimmt ihre ziellosen Wanderungen wieder auf. Der Blick
aufs Telefonbuch bringt die rettende Idee. Schnell hat sie die
Nummer des Seehofs gefunden, waehlt sie mit ungeduldigen
Fingern.
Ist Herr von Balow auf seinem Zimmer?, erkundigt sie sich. Wissen
Sie die Zimmernummer?, fragt der Portier. Nein, leider nicht.
Einen Moment bitte, ich sehe im Gaestebuch nach. Alice hoert ihn
blaettern. Mach schon, faucht sie innerlich, was dauert das denn
so lang.
Wir haben keinen Gast dieses Namens, sagt der Portier
schliesslich. Sie muessen sich irren!, besteht Alice.
Tut mir leid, gnaedige Frau, ich habe mehrmals ueberprueft.
Erschlagen legt Alice den Hoerer auf. Das darf doch nicht wahr
sein! Im selben Moment klingelt es. Sie reisst den Hoerer
hoch.
Wo bist du?, schreit sie hinein.
Hier ist Elisabeth Greifenstein, sagt die Stimme aus der Muschel:
Ich fuerchte, Sie erwarten einen anderen Anruf. Ja, vergisst Alice
jede Konvention.
Soll ich auflegen und die Leitung freimachen?, bietet Elisabeth
an. Ja, nein, verzeihen Sie, stammelt Alice, aber jetzt ist ihr
auch schon alles egal, warum soll sie nicht sagen, wie es ist: Wie
Sie merken, bin ich in einem etwas ramponierten Zustand. Verzeihen
Sie also bitte meine Direktheit – was wissen Sie ueber Horst von
Balow? Nicht viel, meint Elisabeth gedehnt, ich habe ihn gestern
zum zweiten Mal gesehen. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wer
ihn zum ersten Mal mitgebracht hat. Ich habe ihn amuesant
gefunden, und ihn fuer den Abend eingeladen, als ich ihn gestern
zufaellig auf der Strasse traf. Wissen Sie, wo er wohnt?
In Frankfurt, glaube ich.
Nein, ich meine hier.
Leider.
Darf ich Sie spaeter zurueckrufen?, fragt Alice. Freilich. Geben
Sie gut auf sich acht!, sagt Elisabeth und legt auf.
Alice ist dankbar, dass Elisabeth keine Fragen gestellt hat. Was
die sich wohl ueber sie denken mag, will sie sich auch nicht
vorstellen. Was tun?
Es muss eine andere Loesung des Raetsels geben, als die, die sich
ihr so unangenehm aufzudraengen beginnt. Das, was sie gerade
erlebt, ist doch nicht zu vergleichen mit einigen Faellen, die sie
verhandelt hat, und die sich jetzt in ihr Gedaechtnis draengen.
Sie hatte sich immer gefragt, wieso diese Frauen so naiv sein
konnten.
Sie wird in Frankfurt anrufen!
Genau. In seiner Firma wird man ja wohl wissen, wo er ist und
alles wird sich klaeren. Wo hat sie nur seine Visitenkarte? Ins
Portemonnaie hat sie sie gesteckt, und das ist in der Tasche, und
wenn sie sich jeden Schritt einzeln vorsagen muss, so wird sie
sich jeden Schritt einzeln vorsagen und ihn tun. Die Tasche muss
irgendwo bei der Tuer liegen, wo sie sie beim reinkommen achtlos
fallen gelassen hat.
Genau, da liegt sie. Alice packt sie, leert den ganzen Inhalt auf
den Boden, setzt sich dazu und wuehlt. Kein Portemonnaie. Kein
Etui mit ihren Kreditkarten. Kein Scheckheft. Keine
Wagenpapiere.
Mit wellenartigen Bewegungen schiebt sie den Tascheninhalt ueber
den Boden. Eine ganz andere Betonung als gestern findet sie fuer
die Worte, die sich in ihre Kehle draengen: Why not take all of
me...
Sie nimmt sich Zeit, ihr Lied zu Ende zu singen. Ganz gefasst ist
sie, als sie aufsteht, um die Polizei anzurufen.