Der
Name Virginia Woolf steht heute für formale
Innovation, poetische Redlichkeit und bahnbrechende Weltliteratur, deren
Einfluß auf die emanzipatorische Bewegung der Frauen mit dem Beiwort
»feministisch« nur geschmälert wird. Sie selbst hat dieses Etikett bereits
in den 30er Jahren für »überholt, tot, verkommen« gehalten. Virginia
Woolf hatte eigentlich immer über die Seele schreiben wollen, doch wie sie in ihrem Tagebuch am
Montag, den 19. Februar 1923
ironisch bemerkt, kam ihr dabei immer das Leben dazwischen.
Ihr Leben war das der englischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, in dem Familen wie die Stephens, Stracheys, Thakerays
und Duckworths über ein verschlungenes und weit verzweigtes soziales
Netz alter ausgeprägter Wurzeln verfügten, »das sich weit durch die
obere Mittelklasse, den Landadel und die Aristokratie zog. (…) Sie
lebten in einer besonderen Atmosphäre von Einfluß, Auftreten, Ansehen,
und das war für sie so selbstverständlich, daß sie sich dessen so wenig
bewußt waren wie Säugetiere der Luft und Fische des Wassers,
in dem sie lebten.« (Leonard Woolf, aus: 'Mein Leben mit Virginia')
Virginias Kosmos war das legendäre
Britische Empire, in dessen Fugen es bereits ächzte und das nach dem
Ersten Weltkrieg endgültig zu wanken begonnen hatte.
Ihre Romane lassen
ihre Leser in dieses Universum eintauchen. Es ist die Welt einer in
Langeweile versinkenden Gesellschaft, mit all ihren überkommenen
Privilegien einer weltvergessenen Oberschicht und ihrer erstarrten
Rituale.
Virginia Woolf war die scharfzüngige Protokollantin der
psychologischen Verwerfungen der verschiedener Gesellschaftsschichten
mit all ihren Auswirkungen auf das Individuum, und sie bleibt bis heute
die klarsichtigste Chronistin dieser untergehenden Welt.
Ihre
Tagebüchern vermitteln einen intensiven Eindruck, unter welchen
existentiellen Bedingungen, gesellschaftlichen Zwängen, gesundheitlichen
Einschränkungen und den mit ihnen verbundenen Ängsten Virginia Woolf
gelebt und gearbeitet hat.
So indiskret und
geschwätzig, wie sie über ihre zahlreichen Einladungen zu Tea- und
Dinner-Parties und den damit verbundenen Begegnungen mit illustren
Persönlichkeiten der britischen Polit- und Kultur-High-Society eine Art
von persönlichem Protokoll führt, so rücksichtlos versucht sie, sich in
ihrem Tagebuch Klarheit über die Motivation und Qualität ihres Schreibens
zu verschaffen. Ein immer wiederkehrendes Thema ist für sie dabei ihr
phasenweise sehr stark empfundenes Gefühl, von der Welt getrennt,
ausgeschlossen zu sein von dem »natürlichen Glück«.
Vielleicht liegt hier auch ein Grund für ihren hemmungslosen Hang, neben
ihrem Tagebuch Briefe zu schreiben.
Briefe 1 & 2
Man
muß es vorab einmal deutlich sagen, weil so etwas heutzutage leider
nicht mehr selbstverständlich ist: Wie ihre Romane, Erzählungen, Essays
und Tagebücher, ist auch die Auswahl ihrer Briefe sorgfältig ediert,
vorbildlich herausgegeben von Klaus Reichert, und in den wunderschön
atmosphärischen Umschlägen von Sarah Schumann erwartet die Leser ein
Buch von vorbildlicher herstellerischer Qualität.
Hier ist es gelungen, die Intensität der Texte in der sinnlichen
Wahrnehmung des Gegenstandes Buch spürbar werden zu lassen.
Über viertausend Briefe von Virginia
Woolf sind bisher bekannt; eine Auswahl daraus liegt nun in zwei Bänden
zum ersten Mal in der deutschen Übersetzung von Brigitte Walitzek vor.
Wie anregend und schlagfertig Virginia Woolf im Gespräch gewesen
sein muß, vermitteln ihre Briefe sehr eindrucksvoll. Spontan, mit übersprudelnder Phantasie und unverhohlener Freude an Klatsch
korrespondiert sie mit ihrer Familie und ihrem großen Freundeskreis aus
Künstlern und Literaten. Dabei offenbart sich ihre Fähigkeit und
Bereitschaft, intensiv, mit Wärme und Anteilnahme auf ihr Gegenüber
einzugehen, aber auch viel von sich mitzuteilen. Nach den ersten
Schreibversuchen der Sechsjährigen und frühen Briefen an die Familie
dokumentiert die viele Jahre dauernde Korrespondenz mit Violet Dickinson,
der mütterlichen Freundin und Vertrauten, Virginia Woolfs Entwicklungsweg
zum eigenständigen Leben – und Schreiben.
Die Briefe an die
intellektuellen Freunde aus der »Bloomsbury Group« erfordern, bei allem
Sinn für Komik, einen ernsthafteren Ton. In ganz neuem Licht erscheinen
wichtige Freundschaften und Beziehungen, vor allem die
leidenschaftliche Liebe zur Schriftstellerin Vita Sackville-West.
Im literarischen Leben ist Virginia Woolf spätestens seit der Publikation
ihres Romans Jacobs Zimmer präsent; über die Entstehung von Mrs Dalloway
und Zum Leuchtturm schreibt sie 1922 dem Maler Jacques Raverat: »Ich wünschte, ich könnte in diesem Augenblick mit Dir über die
Kunst des Schreibens diskutieren. Ich bin beschämt, oder vielleicht auch
stolz, zu sagen, wieviel meiner Zeit damit verbracht wird, über die
Literatur nachzudenken, nachzudenken, nachzudenken.«
Der zweite Teil
dieser Auswahl führt in die
Jahre ihrer schriftstellerischen Erfolge. Der Roman Orlando, eine
Liebeserklärung an ihre Freundin Vita Sackville-West, erscheint und wird
von Publikum und Presse gefeiert. Sie arbeitet bereits an ihrem großen
Essay zum literarischen und politischen Feminismus, Ein eigenes Zimmer.
Dieser Text erregt die Bewunderung der Komponistin und Frauenrechtlerin
Ethel Smyth, mit der sich eine spannungsreiche Freundschaft und intensive
Korrespondenz entwickelt. Der älteren Freundin gegenüber offenbart
Virginia Woolf viel über ihr Leben, ihr Schreiben und ihre psychische
Labilität:
»Als Erfahrung ist Wahnsinn großartig, das kann ich Dir versichern, und
nichts, worüber man die Nase rümpfen sollte; und in seiner Lava finde ich
noch immer die meisten der Dinge, über die ich schreibe.« (Virginia Woolf
an die Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth)
Urteile über die Werke von Kollegen sowie das eigene Schreiben sind
wiederkehrende Themen in diesen späteren Briefen. »Weißt Du, manchmal
packt mich eine solche Leidenschaft für das Lesen, daß es wie diese andere
Leidenschaft ist – das Schreiben – nur auf der falschen Seite des
Teppichs.«
Aber auch
die Verzweiflung und tiefe Erschöpfung bei der Arbeit an
den Romanen Die Wellen und Die Jahre klingen durch, nicht nur zwischen den
Zeilen.
Krankheit und Tod naher Freunde – des Schriftstellers Lytton Strachey, der
Malerin Dora Carrington, des Malers und Kunsthistorikers Roger Fry –
erschüttern Virginia Woolf zutiefst.
Als ihr Neffe Julian Bell im
Spanischen Bürgerkrieg tödlich verwundet wird, versucht sie in täglichen
Briefen ihre Schwester Vanessa zu stützen. Der eigenen Depression, der
Zerstörung der Wohnung in London durch einen deutschen Bombenangriff und
schließlich der Furcht, wieder wahnsinnig zu werden, kann sie nicht mehr
standhalten.
Nach dem Überfall auf Holland und Belgien im Mai 1940 beschließen die
Woolfs, gemeinsam aus dem Leben zu gehen, falls es zu einer
deutschen Invasion Englands kommen sollte, und besorgen sich Gift.
Leonard Woolf ist Jude.
Die Luftschlacht um England
hat 1941 ihren Höhepunkt erreicht, und täglich fliegen deutsche Bomber
Angriffe auf London. Bei einem dieser Angriffe wird ihr Haus am Mecklenburgh Square schwer beschädigt. Virginias gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr. Am
27. März bringt Leonard Woolf seine Frau zu einer Ärztin nach Brighton.
Einen Tag später ertränkt sich Virginia Woolf im Fluß Ouse bei Lewes in Sussex. Sie ist eine gute Schwimmerin, deshalb wickelt sie einen
schweren Stein in ihren Mantel ein.
In ihrem Abschiedsbrief an Leonard
Woolf schreibt sie
am Freitag, dem 28. März 1941:
»Liebster,
(…) wenn überhaupt jemand mich hätte retten können, wärst Du es gewesen.
Alles ist von mir gegangen bis auf die Gewißheit Deiner Güte. Ich kann
Dein Leben nicht länger ruinieren. Ich glaube nicht, daß zwei Menschen
glücklicher hätten sein können als wir es waren. V.«
Über diese wunderbaren Tagebücher und
Briefe nahezu unmittelbar am Leben & Schreiben, an den Höhenflügen &
Höllenfahrten der Schriftstellerin & Frau Virginia Woolf teilhaben zu
können, ist eine beglückende Leseerfahrung von seltener Intensität & literarischer
Güte. Herbert Debes
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Kurzbiographie
Virginia
Woolf
Briefe 1
1888-1927
Herausgeber: Klaus Reichert
Übersetzt von
Brigitte Walitzek
S. Fischer Verlag
564 Seiten, Leinen Fadenheftung
Preis € 39,00
ISBN 3-10-092556-4
Virginia
Woolf
Briefe 2
1928-1941
Herausgeber: Klaus Reichert
Übersetzt von
Brigitte Walitzek
S. Fischer Verlag
528 Seiten, Leinen Fadenheftung
€ 39,00
ISBN 3-10-092564-5
Virginia
Woolf
Tagebücher 4
1931-1935
Herausgeber: Klaus Reichert
Aus dem Englischen von Maria Bosse-Sporleder
S. Fischer Verlag
Preis € 39,00
592 Seiten, Ln Fadenheftg
ISBN 3-10-092562-9
Virginia
Woolf
Tagebücher 5
1936-1941
Herausgeber: Klaus Reichert
Aus dem Englischen von Claudia Wenner
S. Fischer Verlag
Preis € 39,00
604 Seiten, Leinen Fadenheftung
ISBN 3-10-092566-4
Klaus Reichert war Professor für Anglistik an der
Universität Frankfurt am Main. Er arbeitet über die Renaissance, die
klassische Moderne und über Übersetzungstheorie und -geschichte. Er hat u.
a. Shakespeare, Lewis Carroll, James Joyce, John Cage und das Hohelied
Salomos übersetzt. Er ist Herausgeber der deutschen James-Joyce-Ausgabe.
1993 gründete er das interdisziplinäre ›Zentrum zur Erforschung der Frühen
Neuzeit‹ in Frankfurt. Seit 2002 ist er Präsident der Deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung.
Virginia Woolf
Das Lesebuch
S. Fischer Verlag
512 Seiten, gebunden
Preis € 12,00
ISBN 3-10-092588-2
Virginia Woolfs Romane sind Weltliteratur. Sie war aber auch eine der
lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und gehörte zu den ersten
Autorinnen, die sich konsequent um Geschichte und Zukunft weiblichen
Schreibens in unserer Gesellschaft gekümmert haben. Damit wurde sie zu
einer Symbolfigur der internationalen Frauenbewegung. Auch ihre Tagebücher
sind als ein bedeutendes literarisches Werk zu betrachten.
Dieses Lesebuch zeigt die große Spannweite von Virginia Woolfs
literarischem Schaffen: die Kraft ihrer Romane, die schwebende Zartheit
mancher kurzer Prosastücke, den Reichtum ihrer Essays an Themen und
Assoziationen, die Entschiedenheit ihrer feministischen Plädoyers und
schließlich, in ausgewählten Briefen und Auszügen aus den Tagebüchern, die
genaue und sensible Beobachtung ihrer Innen- und Außenwelt.
HermioneLee
Virginia Woolf
Ein Leben
Aus dem Englischen von Holger Fliessbach
Fischer Taschenbuch Verlag
1152 Seiten, Broschur
Preis € 12,95
ISBN 3-596-17374-4
»Mein Gott, wie schreibt man eine Biographie?«
Dieses Zitat Virginia
Woolfs eröffnet eine Lebensbeschreibung, die in vielen Rezensionen als
biographisches Meisterstück gerühmt worden ist. Mit ihrem monumentalen
Werk macht Hermione Lee unser Bild von Virginia Woolf um einige Klischees
ärmer und um viele Nuancen reicher. Sie setzt sich intensiv und skeptisch
mit den oft wiederholten Darstellungen von ihr als Opfer - ihres düsteren
viktorianischen Elternhauses, der sexuellen Zudringlichkeit ihrer älteren
Brüder, ihrer Geisteskrankheit - auseinander und zeigt, mit welchem Mut
Virginia Woolf sich im Lauf ihres Lebens ihren frühen Erfahrungen und
inneren Widersprüchen stellte und sie kraftvoll umsetzte in ihr
literarisches Werk. Mit großem Feingefühl geht die Autorin den wichtigsten
Beziehungen in Virginia Woolfs Leben - zu ihrer Schwester Vanessa, zu
ihrem Mann Leonard, zu Vita Sackville-West - nach und definiert sie
anders, als man es bisher gewohnt war.
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