Drogen. Zur neuen Ausgabe von lit08.de
Vor einigen Jahrzehnten waren Drogen noch ein Mittel, um aus der Gesellschaft auszusteigen. Der klassische Drogensüchtige war in der Vorstellung des Normalbürgers langhaarig, ungewaschen, körperlich herunterkommen und zu allen Verbrechen bereit, um sich den nächsten Schuß zu setzen. Mittlerweile sind die Drogen mitten in der Gesellschaft angekommen. Sie haben ein Bündnis mit dem modernen Leistungsprinzip geschlossen: Immer mehr Menschen greifen auf Psychopharmaka zurück, um sich länger konzentrieren zu können, um sich mehr merken zu können, um aktiv zu sein und den Anschluß an den Arbeitsalltag nicht zu verpassen. Nach einer „Nature“-Umfrage greift das „Gehirn-Doping“ auf eine spektakuläre Weise um sich. Bereits einer von fünf Akademikern wirft Medikamente ein, um sich weniger überfordert zu fühlen: Ritalin heißt das Zaubermittel, das die Leistungsträger länger am Schreibtisch hält, das ihren Streß und ihre Ängste abbaut.
Schon vor mehr als zehn Jahren hat Helmut Krausser in „Thanatos“ seinen Romanhelden, einen betrügerischen Germanisten (!), auf eine andere Droge gesetzt: Rutaretil. Man muß das Wort nur rückwärts lesen und sieht, daß Krausser noch einmal an die alte Tradition der romantischen Drogenpoesie anknüpft: an die Tradition der autonomen Vorstellungskraft, die sich durch Rauschmittel zu Wirklichkeiten ganz eigener Art hinaufmogelt. Aber auch für diese Droge gilt: Sie ist mitten in der Gesellschaft angekommen. Rutaretil wird nicht mehr unter der Hand gehandelt, nicht mehr von Rauschexperten in kleinen abgeschlossenen Zirkeln genossen. Literatur gehört vielmehr zur Lebenskunst des leistungsbewußten Normalbürgers, der sie in kleinen Dosen genießt, um für den Arbeitsalltag fit zu bleiben.
Die neue Ausgabe von lit08.de widmet sich in den nächsten sechs Monaten diesem Alltag der Drogen als Teil einer neuen und alten Lebenskunst. Hier geht es auch, aber eben nicht nur um den großen Rausch. Es geht um das mittlerweile so komplex gefaltete Feld des Rausches und der Berauschung. Hier nähern sich die Autoren und Autorinnen allerlei einzelnen Mitteln und Möglichkeiten, um ihre Wirkungen zu bestimmen.
lit.essay reflektiert Rausch und Drogenkonsum mit Essays, Interviews und experimentellen Texten.
lit.kritik stellt rauschhafte Texte, Songs und Filme auf die Probe.
lit.magazin fixiert die Lebenskunst der Gegenwart und wirft mit Fotos und Comics einen Blick auf die Gegenwart der Drogenkultur.
Dazu gibt es bei lit08.de wie immer das lit.atelier, wo man alle sechs Monate ein ausführliches Interview findet.
lit08.de steigt selbst in ein Experiment ein, von dem noch nicht klar ist, zu welchen Wirkungen es führt. Nur klar ist: Hier werden nicht mehr das große Rauscherlebnis als Eintritt ins Himmelreich gefeiert. Genauso wenig wird der Drogenkonsum als letzte Höllenfahrt des modernen Kaputtmenschen verdammt. Es geht um ein feineres, genaueres Hinsehen und ein genaueres und feineres Hören. Dementsprechend geht es auch um ein feineres Notieren und Fixieren von Phänomenen, von Themen, von Artefakten, die in dieses neue Rauschfeld hineingehören.
Copyright © lit08-Redaktion – Apr 15, 2008