Der Rausch der Gegenwart: Von der Lebensflucht zur Lebenskunst
Der Rausch interessiert seit jeher als Möglichkeit, mit dem ganz ‚Anderen’ in Kontakt zu kommen. Denn wo der Rausch sich Bahn bricht, wird der klar geregelte Zusammenhang mit der Welt gelöst. Wer sich im Rauschzustand befindet, hat seine Verbindungen zur Umwelt gelockert, verschoben, verzerrt oder sogar ganz gekappt. Im selben Zuge öffnen (oder verengen) sich die Sinne derart, dass plötzlich etwas gesehen, gehört, gefühlt, gedacht, geredet werden kann, was sich im Zustand der Nüchternheit nicht sehen, hören, fühlen, denken oder sagen lässt.
Den Schamanen und Priestern hat das über Jahrhunderte möglich gemacht, das Reich der Geister und Götter zu betreten, mit ihnen in Kontakt zu treten und wichtige Botschaften entgegenzunehmen, die man dann – zurück auf dem Boden der Tatsachen – denen mitteilen konnte, die sich nicht selbst über die Grenzen wagen wollten oder am Übertritt gehindert wurden. Noch die frühen Künstler, die im Zuge der zunehmenden Ernüchterung der Kultur die Schamanen und Priester beerben, treten als Grenzgestalten in Szene, die sich das Wissen entweder selbst von drüben holen oder denen das Wissen per Datenfunk aus den Himmelreichen und Totenstätten direkt in Leib und Seele übermittelt wird.
Auf solche Verbindungen müssen die neuzeitlichen Künstler verzichten, weil die Leitungen nach drüben gekappt sind; wer immer noch nach drüben telefoniert, bekommt es im Diesseits immer schneller und immer heftiger mit immer komplexeren (und immer komplexer legitimierten) Kontroll-, Straf- und Verwahrungsinstitutionen zu tun. Der Rausch öffnet seither nicht mehr die Tür zum Jenseits im Diesseits. Er öffnet die inneren Welten: das Himmelreich und die Hölle kann man auf Rundflügen durch das entdecken, was man von außen das ‚Ich’ nennt, was sich aber von innen gesehen nicht mehr als Einheit, sondern als himmlisches oder höllisches Durcheinander darstellt. Wer das erfahren will, greift auf Rauschmittel zurück. Sie ermöglichen, was Walter Benjamin später die ‚profane Erleuchtung’ nennen wird und was bei einigen Mitteln eher profan, bei anderen (vor allem den Halluzinogenen) eher erleuchtend ausfällt.
Copyright © Stephan Porombka – Apr 15, 2008