Lino Wirag

Schreibstoff: Zeit

24 Stunden sind ganz klar zu kurz. (Michael Lentz)


Ohne Zeit keine Texte. Für eine durchschnittliche Erzählung (Sie verlässt ihn, er kriecht bei seinen Eltern unter, bis ihn schließlich eine Reise nach Südamerika daran erinnert, was ihm im Leben wirklich wichtig ist: sein Goldfisch; er sucht für sich und den Fisch eine neue Wohnung mit feuchten Wänden) benötigt ein durchschnittlicher Autor 380 MIN.

MIN - der Stoff, auf dem alle Schreiber sind. Und der einzige Dealer ist die UHR, die mit jedem Zeigertick kostbare MIN in die Luft abgibt, wo sie umherschweben, bis sie vom gierigen Scribilius aufgesaugt werden, um ihn zu neuen Höchstleistungen anzuspornen. Denn: Zeit kickt.

Und es ist eigentlich genug davon da. Wer als routinierter User nach dem Aufstehen seine UHR checkt, stellt fest, dass sie bis unters Ziffernblatt voll mit Stoff ist – mindestens 1000 MIN wird sie im Laufe des Tages liefern. Da müsste der siebenundzwanzigste Wende-Roman doch bis zum Abend auf dem Laptopschirm flimmern. Mitnichten!

MIN sind eine tückische Substanz. Befindet man sich nicht vor seinem digitalen oder analogen Blatt Papier, ist man nicht in einem Zustand der Aufnahme, der totalen Konzentration und Unterwerfung, dann gehen die MIN wirkungslos an einem vorüber. Verpuffen einfach. Eine nach der anderen. Wer also gerade in der Supermarktschlange vor sich hindümpelt, wer den Bus schon wieder knapp verpasst hat oder sich gedankenlos mit Putzarbeiten aufhält, der kann sicher sein, dass ihm kostbare MIN entgehen. Schon zucken die Finger, man schnüffelt nach dem typischen ZEIT-Aroma aus Essiggurken und Thymian, linst immer wieder auf die Uhr. Wir nennen es Abhängigkeit.

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Copyright © Lino Wirag – Jun 15, 2008