Für Michael Lentz und gegen Dirk von Petersdorff. Paulus Böhmer zu Ehren. „Nach” dem Hannoverabend des 16. Septembers 2010. Mit Marion Poschmann und Jan Wagner. Nie aber sollst du mich nennen, sowieso: die Dschungelmacht (nicht) nutzen.

Boehmer-Preisverleihung-3

Michel Krügers Einleitung

„Erwähne mich bitte nie in Der Dschungel” – wir standen rauchend mit >>>> Michel Krüger auf der Freitreppe zum >>>> Künstlerhaus Sophienstraße beisammen; Krüger etwas abseits, da Franka G. und ich so in persönlichem Gespräch begriffen – „nein, auch nicht als F.. Weißt du, ich erinnere mich: vor Jahren, als Gustavson diesen Eheroman herausbrachte, von dem ich ihm noch abgeraten hatte, denn wenn jemand leidet, dann sieht er nicht klar… also damals hat er selbstverständlich auch mich mitverwurstet… alles ganz anonym, ich war einfach nur F.. Doch ein Jahr später kommt ein Patient in meine Praxis, sieht mich nur, geht zwei Schritte zurück und sagt mißtrauisch: ‚Sie sind doch F., Frau G?’ Du siehst, sogar Patienten lesen. Nein wirklich, Alban: keine Erwähnung. Dein Dschungel ist ein gefährliches Besteck.” Weshalb sie Besteck sagte, erklär ich mir aus ihrer bezahnten Profession. In der Tat finde ich heute morgen >>>> meinen Text zur Eröffnung des ilbs unter den allerersten Google-Links. Manch einer wird so Die Dschungel nie wieder los, woraus sich dann vielleicht d o c h erklärt, weshalb >>>> BettyB – meine Stellvertreter-Figur für viele andere, die wirklich sind – so unbedingt anonym bleiben will. Denn manchmal, da hat die Betty recht, n u t z e ich die Dschungelmacht. Zum Beispiel nämlich jetzt:

Spät nachts kam ich >>>> aus Hannover zurück. Jan Volker Röhnert zwar bot mir an, allerdings zögerlich, mit ihm das Hotelzimmer zu teilen („Bei mir stehn eh zwei Betten drin”), doch s o nah sind wir einander nicht; das wußten wir beide. Außerdem war und ist er keine Frau: bei denen stört mich Fremdheit nicht. Im Gegenteil. „Fremdheit macht Erektion”, heißt es in >>>> MEERE; das gilt für Frauen genauso, nur halt mit einem anderen Effekt, wenn auch einem, der aufs selbe hinauswill. Kurz, ich fuhr denn nachts wieder heim. Da hatte ich einen Gedichtband gekauft, spontan, ich konnte nicht anders, nämlich Offene-UnruhMichael Lentzens 100 Liebesgedichte, >>>> bei S. Fischer unter dem Titel „Offene Unruh” erschienen. Michael Braun hat zu ihnen leidenschaftlich geschrieben, was gestern abend >>>> Martin Rector vortrug, weil Braun krankheitshalber verhindert war. Ich hätte mir gewünscht, daß Michel Krüger, der über Jan Wagner vortrug, die Vorstellung Michael Lentzens übernommen hätte. So nun geriet Lentz in schlechte Gesellschaft. Denn der Kotau, mit dem sich Rector zuvor Petersdorffs betriebsbe-, ja -durchgetriebenen Produkten zu Füßen geworfen hatte, war schlichtweg ekelerregend gewesen – zumal er darauf enormen rhetorischen Nachdruck verwandte, wiewohl doch allenfalls ein Erstaunen sein kann, daß ein Mann mit einer solchen intellektuellen Karriere solche schlechten Verse verfaßt. Tatsächlich meidet Petersdorff in seinen „Gedichten” nicht eine einzige Banalität, ja er gefällt sich und, schlimmer, suhlt uns darin: das gilt für die Formen wie den Inhalt. Wo es hingeht, fleddert er in den letzten Knochen Gernhardts herum, der auch schon lyrisch ein, wenn auch ungewollt, Scharlatan war. Geht es, wie nahezu immer, schlecht, ist Petersdorff kaum mehr als eine Mary Roos der Alltagsgedingse. Das desavouiert die Formen, derer er sich bedient – immer auf das schnellstgefundene Reimwort gehüpft. Zwar ist dies nicht ohne Kunsthandwerk, denn das ist freilich recht toll, wenn selbst die Glätte klappert. „Ein Replikant”, dachte ich aber, „meine Güte: So schreiben Replikanten Gedichte.” Wo wahres Gefühl wäre zu erwarten, Betroffenheit, jaja: sagen Sie nur „sentimental” – das heißt doch nicht, das Engagement sei sentimental auch in Worte zu fassen… – kurz: wo L e b e n ein Gedicht beseelte, wirkt durch Petersdorffs Verse nichts als Mainstream-Prothetik. Gebrauchsgedichte sind das im besten Fall, die aber, durch Kleist(!!)- und Liliencron-Preise, zu Hölderlin hinaufgemetzt worden sind von einem Betrieb, der sich hierin schamloser offenbarte denn je. Unter der plastifizierten Oberfläche schaut Tiefe nicht mal mehr durch. Hier werden gestiegene Brötchenpreise zu Weltschmerz ohne Schmerz, ja Schmerz selber, ganz wie die Liebe, zum Produkt der affirmativsten Melancholie. Die setzt, ganz klar, auf den Ulk. Wäre ich gutwillig, ich spräche von Abwehr, Reaktionsbildung nämlich: das Lachen, auf das Petersdorff so ganz erfolgreich abzielt, hat das Niveau eines ins Feinsinnige nobilitierten Schenkelklatschens. Dabei geht der Mann völlig nackt. Neben mir und um mich herum zuckten die, die es wußten. Aber sie schwiegen. Die anderen lachten, wie zu erwarten, denn was des Affen ist, das frißt er. Alleine ich – Leser, ich konnte nicht anders – rief ein „Furchtbar!” in den Applaus.

So war diese Lesung nicht nur eine Maulschelle ins Gesicht Paulus Böhmers – Rector hatte nämlich gar noch „empfohlen”, an Petersdorff den nächsten Hölty-Preis zu vergeben -, sondern eine Beleidigung der drei anderen Autoren, die das Vorprogramm zur Preisverleihung bestritten: eine Verletzung der sanften, melodiösen Gedichte Jan Wagners, der stillen, ausgesprochen formstrengen, bisweilen schwebenden Gedichte Marion Poschmanns und – daß der sich nicht wehrte! – der radikalen und doch gefährdeten Sprache der „100 Liebesgedichte” von Michael Lentz. Sie waren meine Entdeckung des gestrigen Abends. Sie überfuhren mich, sie machten mich nervös, sie schossen durch mich hindurch. Lentz weiß um die Öffnung, der er sich aussetzt, jede Zeile ist von einem Schmerz, der andere nachtreten läßt, wenn wer schon fiel. Daher die aggressive, dabei virtuose Vortragsform. Sie ist nicht jedermanns Sache, ganz sicher. Sie fällt einen an. Da hat einer, spürt man, den Sprengsatz bereits um den Bauch. Das interpretiert die Gedichte: schützt sie nämlich. Wie groß, abermals nämlich, dann nämlich mein Erstaunen, als ich sie nachts, auf der Rückfahrt im Zug, alleine für mich las. Welch eine Traurigkeit. Welch eine Verlassenheit. Welch Unglück, das immer noch liebt. Welche Ehrlichkeit dabei, unkorrumpierbar auch durch sich selbst. Leser, kaufen Sie sich >>>> diesen Band. Tragen Sie diese Gedichte immer bei sich. Wie ich fortan.

am ende des ganges die tür
du stehst gegen die wand und wartest
auf wen? durch die tür musst du selbst
geh aufrichtig wende den blick nicht ab
deine schritte seien sicher und ruhig
hast du die tür erreicht öffne sie
dann endlich sage folgende worte: ich liebe dich
merkst du dass es keinen boden gibt?
und der gang nimmt kein ende
* Dann aber Paulus Böhmer.

Damen und Herren: ein Größter.

„Du hast ja keine Ahnung, welch einer Kraft es bedurfte, die Leute überhaupt zum Lesen zu bringen.” Ich schreib nicht, wer das gesagt hat: Solche, die die Abläufe kennen, ahnen es ohnedies, und die sie ahnen, kennen es. Da saß dann der Dichter, grau unterdessen das Haar, fast weiß sogar, vorn in der Reihe, dieser schwergewordene, wuchtige Mann, dessen Lebenswerk – „es ist mir peinlich, wenn jemand von ‚Werk’ spricht”, sagte er später; ich zuckte zusammen – doch aber j a: Lebens w e r k in der deutschen Lyrik seinesgleichen nicht einmal sucht, es wäre vergeblich – saß dieser Einsame Boehmer-Preisverleihung-1wuchtig da, der über Jahrzehnte den Steinkoloß rauf- und immer weiter raufgewuchtet hat – denn Sisyphos’ Elend besteht ja nicht darin, daß der Stein immer wieder zurückrollt, sondern der Hang nimmt kein Ende: der Berg kennt keinen Gipfel; – … saß da und war fremd. Stieg fremd auf die Bühne, Boehmer-Preisverleihung-2verlegen und fremd, reichte dem Sparkassenleiter die Hand, dem Oberbürgermeister, und wir spürten: Fremdheit, Fremdheit, Fremdheit. Seltsam: denn aber beglückt. Beglückte Fremdheit. Das war ihm vielleicht das peinlichste, daß er so glücklich war, und er floh mit >>>> Heusch ins Gedicht – in einen jener unendlichen Kaddishs, von denen >>>> Jan Volker Röhnert, der die kluge Laudatio sprach, nicht zu Unrecht meint, sie seien das Zentrum dieser Dichtung und überschrieben den Tod mit dem Leben, „zumindest für den Zeitraum des Lesens”. Röhnert nannte auch die Bezugsgröße: Homer. Bereits Benjamin habe gefragt, wann denn die Moderne ihre Dichtung des Kataloges bekomme. Nun sei sie, drei Jahrzehnte lang von der literarischen Öffentlichkeit nahezu unbeachtet, entstanden. Denn in der Tat, Böhmer zählt auf, das Nahste, das Fernste, den Geist und den Leib, die Mikroben, den Stoffwechsel: nichts ist profan; alles, seltsam!, wird heilig. Man muß das hören, wie das geht. Wie das konzertiert wird, wie das im Tanz dreht, wie die Verzweiflungen schreien, aber die Zartheiten legen sich drüber, das Zarte-an-sich, das nicht lügt. Wie Inseln der allerkleinsten Traurigkeiten entstehen, aber der Küsse auch, und wie sich wieder die ganze Welt darüberwälzt, Liedhaftes drin, das schon verklingt, wenn es anklingt, und nur bisweilen ein Reim hält es im Gedächtnis. Aber diese Reime sind oft falsch, falsch indes aus Nähe, falsch, um nicht zu lügen, nicht vor die Hunde zu werfen, die Schweine, die in die Perlen nicht fahren sollen. Im Wechselsang trugen die beiden das vor, der Dichter und der Sprecher, dieser ein Tenor, jener im Baß. Ach, wie muß Böhmer gelitten haben gestern abend, als ihm zu Ehren, dem die sogenannte klassische Musik ein Greuel ist, zwei Vertonungen von Hölty-Gedichten schlecht gesungen wurden, peinlich, dieses Outrieren der Sängerin, die ich nicht nenne, peinlich dieses hehre Gesichtsverziehen einer ältlich gewordenen Höheren Tochter, dieses Bedeutungsgeschnulze, peinlich besonders auch mir, der ich die sogenannte klassische Musik so sehr liebe, daß man dieses Fanny-Hensel-Zeug ausgerechnet diesem Dichter vorgesetzt. Daß er nicht platzte! Daß er nicht höhnte! Daß er nicht wütend den Saal verließ! Hat sich denn keiner darum geschert, w a s wohl des Böhmers Musik sei? M u ß denn der bürgerliche Musenbegehr derart amusisch sich in die Brüste werfen, noch immer? Schon peinlich sowieso, einen auf große Säle getrimmten Sopran, der zumal unsauber an den Tonrändern ist, in einen Kleinkinoraum hineinzutölen. Welch eine Brutalität!
Die wirkliche Musik sangen Böhmer und Heusch. Das, von dem Abend, wird uns, die dabeiwaren, bleiben. Ighino ruft: „Nun sollst du wieder leben – wieder lachen – / Du bist so still – sag, freust du dich denn nicht?” Und Palestrina antwortet: „Doch, doch, mein Kind – nur, sieh – / Ich freu mich nicht so laut.” Und er schickt den Bub auf die feiernden Straßen.
Boehmer-Kaddish1Boehmer-Kaddish-21

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