Der internationale Romanistentag hat in den vergangenen Tagen in Berlin stattgefunden. Zu Beginn meines Urlaubssemesters habe ich mir dennoch einige Vorträge angehört, vor allem im Bereich der Rumänistik. Die Rumänisten sind eine überschaubare Sektion innerhalb der Romania. Ich kenne da einige Leute. Sieben, um genau zu sein. Also alle! Kontakte sind wichtig, Bekanntschaften und Freundschaften nicht minder.
Ich interessiere mich vor allem für die Orbitor-Trilogie von Mircea Cartarescu. Da ist derzeit nur der erste Teil übersetzt als „Die Wissenden“. Im Original heißen die drei Teile “Orbitor. Aripa stanga” (Blendend, Der linke Flügel); “Orbitor. Corpul” (Blendend, Der Körper); “Orbitor. Aripa dreapta” (Blendend, Der rechte Flügel). Cartarescu hat auf die Frage, ob er seinen Roman in wenigen Worten zusammenfassen könnte, die folgende Antwort gegeben: „Ich habe 14 Jahre und 1500 Seiten gebraucht, um herauszufinden, worum es in dem Roman geht. Jetzt kann ich es sagen, jedoch nicht in wenigen Worten, sondern in genauso vielen, wie ich im Buch verwendet habe.“, hier. Irgendwo in seinem Jurnal heißt es einmal, glaube ich, er wolle „mit perversem Verstand, ein unlesbares Buch schreiben“. Vielleicht hat das auch jemand über ihn gesagt. Es ist ein unlesbares Buch. Es ist eine erhebliche Herausforderung für jeden Literaturwissenschaftler. Man meint an vielen Stellen es zu begreifen. Aber man begreift es nicht.
Allein der Titel ist von einiger Komplexität. Alle drei Teile heißen „Orbitor“. Die korrekte Übersetzung ist „Blendend“. In der doppelten Bedeutung von Sehen, nämlich ein Sehen, das mehr ist als ein Sehen. Ein Über-Sehen. Ein so deutliches Sehen, dass es zu viel ist und der geblendete Mensch eben nichts mehr sieht. „Orbire“ bedeutet Erblinden. Dann steckt in dem Wort natürlich der Orbit, die Umlaufbahn, deren Rundung beim Sprechen sowohl im Eröffnungslaut – Or – als auch im identischen Verschlusslaut – or – mit den Lippen bildnerisch nachgezeichnet wird. Orbitor hat aber noch andere Anklänge und kann auch „Abstumpfung“ oder „Banalisierung“ bedeuten. Diesem Bild einer Umlaufbahn, der Wiederkehr der Planten und Ereignisse, allerdings auch der stumpfen Wiederholung, wird ein zweites Bild mitgegeben, das in allen drei Teilen des Romans wiederkehrende (!) Bild des Schmetterlings mit seinem Körper und seinen beiden Flügeln: hier klingen die Verwandlung der Raupe an, die Schönheit des Tieres, das Fliegen, die Ziellosigkeit, die geometrische Zeichnung der Flügel und intellektuelle Mitbedeutungen wie das Assoziationsvermögen beispielsweise im Rohschach-Test und die Unterteilung des Gehirns in zwei einander ergänzende Hälften. Der Schmetterling ist in der Trilogie, wenn man das sagen kann, das Bild für eine ästhetische Erlösung. All das ließe sich noch sehr viel ausführlicher entfalten.
Prof. Michelé Mattusch hat in ihrem Vortrag einen Gedanken paraphrasiert, der in dem Roman thematisiert wird: die Struktur eines Termitenhügels ist durch den Bau der Kiefer der Termiten vorgeben. Das finde ich ein sehr schönes Bild. Die Welt der Termiten sieht so aus wie sie aussieht, weil die Tiere sie so begreifen können. Diese Welt ist eine ihren Organen und ihrem Wahrnehmungsvermögen adäquate Welt. In einer anderen könnten sie gar nicht leben. Sie gehen nicht ins Kino, weil sie keins haben und sie haben keins, weil sie das Organ dafür nicht haben: das Gehirn, die Augen oder einfach die cineastische Leidenschaft.
Ich habe in den vergangenen Tagen zwei Zeitungsartikel gelesen, die mich in Erstaunen versetzt und meinen Widerspruch provoziert haben. Beide (eins, zwei) drehen sich um dasselbe Thema, darum, dass Physiker offenbar, oder möglicherweise, Teilchen entdeckt haben, die sich schneller als das Licht bewegen. Das würde Einsteins Relativitätstheorie und dessen zentrale Konstante, nichts ist schneller als das Licht, zusammenbrechen lassen. Vielleicht haben diese Physiker das nur deswegen entdeckt, weil die Drittmittel ja irgendwoher kommen müssen und da macht sich der Zusammenbruch des Universums oder seiner stabilisierenden Theorie ganz gut. Aber irgendwo und irgendwann geht ja immer gerade die Welt unter, zum Beispiel am 21. 12. 2012. Für irgendwas ist das immer gut, in diesem einen Fall für die Grundstückspreise in Bugarach.
Wie der Bau des Termitenhügels im Bau der Termitenkiefer bereits vorgegeben ist, so ist der Bau des Universums bereits durch den Bau des menschlichen Gehirns vorgegeben. Die Welt, die wir verstehen ist die Welt, die wir verstehen können. Keine andere. Das heißt aber nicht, dass es da nicht eine andere gibt. Ich empfinde es als lächerlich und anmaßend, zu glauben, das Universum sei wirklich so aufgebaut wie die physikalischen Beweise es zeigen. Das Universum ist vielmehr so, wie die Beweise es beweisen. Sie beweisen nichts anderes, als wie wir es uns vorstellen können. Das ist natürlich letztlich mit jedem Beweis so und auf diese Weise lässt sich kaum ein Axiom wie der Satz des Pythagoras relativieren. Wir müssen davon ausgehen, dass eins und eins immer zwei ist. Egal unter welchen Umständen (obwohl ich meine, mich erinnern zu können, dass es bei den irrationalen Zahlen anders ist. Aber für mich sind alle Zahlen irrational. Was das Leben nicht einfacher macht!).
Dennoch empfinde ich das Ganze als eine gigantische Bauernfängerei. Dolle Sache da draußen: Schwarze Löcher und Antimaterie. Lichtgeschwindigkeit, an deren Grenzen wir wieder jünger werden. Ursache und Wirkung geschehen in unterschiedlicher Reihenfolge, Reisen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Ziemlich großes Spielzimmer, was sich die Physiker da ausgesucht haben. Das derzeit größte. Weltweit. Und darüber hinaus.
Man macht sich im CERN in Genf und anderen Orten irgendwo in Amerika, ich glaube am MIT, auf die Suche nach den Anfängen des Universums. Das ist die Grenze zur Fiktionalität. Das ist die Grenze zwischen Science Fiktion und Wirklichkeit. Das sind die Erzählungen vom Anfang der Welt. Man macht sich anhand von Zahlen ein Bild. Man sucht ja letztlich keine Zahlen. Man sucht Bilder. Man sucht Worte. Weil man sich anhand von Bildern und Worten eine Geschichte erzählen kann. Am Ende ist alles so wie wir es uns vorstellen können. Oder wir stellen uns es so vor wie es ist. Das macht keinen Unterschied mehr.
Brigitte Heymann, eigentlich Romanistin, hat in ihrem Vortrag, in Bezug auf den Blutkreislauf und viele andere Ereignisse, gesagt: „Wir können das nicht sehen. Wir können das nicht erfahren. Aber wir können es schreiben.“ Mircea Cartarescu sagte einmal in übertragenem Sinne in „Orbitor“: der Weltraum braucht kein menschliches Auge. Ganz meiner Meinung. Man schießt also mit Lichtgeschwindigkeit winzige Teilchen aufeinander und schaut sich dann die Schäden an. Jeder literarische Schuss in den Ofen ist interessanter. Und deutlich günstiger.
Bei Kommentaren muss man noch immer das captcha mit beiden Worten überwinden.
Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.
- von Aléa Torik
in Aleatorik