2.9.2017 – Damaskus

2.9.2017

Meine palästinensische Freundin hat Geburtstag. Sie wurde vor 70 Jahren in Bethlehem geboren. In Jerusalem ist sie zur Schule gegangen: Dar Al-Tifel Al-Arabi. Das Kissen mit dem typischen feinen Kreuzstichmuster, das ich dort bei meiner ersten Israelreise mitgenommen habe, liegt in dem Korbsessel. Nach dem ersten Golfkrieg haben wir uns kennengelernt. (Das muss ich schon einmal erzählt haben –)
Ich schreibe meine Wünsche hinter das schönste Bild, das ich in Jerusalems Altstadt gemacht habe, und packe es zu einem Buch über das Leben und das Glück.
Es regnet, regnet, regnet. Und es ist kalt geworden. Der Hund mag auch nicht hinaus. Ich werde mein Tabaski-Gewand nicht anziehen können.

Weiterschreiben wollte ich, dann habe ich mir den Film angeschaut, den ich schon lange vor mir her geschoben habe: Damaskus. 12 Tage 12 Nächte.
Auch von einem Palästinenser, der in Deutschland lebt.
Keine gute Vorbereitung für einen Geburtstag: diese Kinder. Wie kann man ihnen helfen.
Furchtbar, was alles gleichzeitig passiert. Wer bin ich, dass ich das einfach aushalte, weitermache, die gewünschte Mousse au chocolat zubereite und mich frage, was ich anziehen soll. Es ist pervers. Und grausam.

Und zum Weinen. Damaskus jetzt auch.

1992

Damaskus
Damischk

Imma!
Imma!
Nein, nicht seine Mutter ruft der Kleine, sondern die des Kätzchens, das er mit beiden Händen fest und hoch in die Luft hält: Imma! Und als ich in die Richtung schaue, die er der kleinen Katze zeigen will, sehe ich auf der anderen Seite der Straße eine große Katze, die Mutter: Imma. Sie läßt ihr Junges nicht aus den Augen, rennt von einem parkenden Auto zum anderen, um sich darunter in Sicherheit zu bringen, die belebte Straße zu überqueren, wagt sie offenbar nicht. Auf der anderen Seite ihr Junges in den Händen des Kleinen zwischen nebeneinander und übereinander gestapelten Käfigen mit laut zwitschernden und gurrenden Vögeln: Tauben, Enten, Hühner, Kanarienvögel, Papageien und immer wieder Tauben, dicht gedrängt in großen Käfigen, Flügel an Flügel, Schnabel an Schnabel. In einen kleineren leeren Käfig steckt der Junge jetzt das Kätzchen, macht das Türchen zu und schwenkt den ganzen Käfig mit dem sich angstvoll darin niederkauernden Tier durch die Luft: Imma! Imma! Die Mutter bleibt scheinbar uninteressiert im Schutz eines Autoreifens sitzen. Da macht der Junge einen anderen Versuch: er läßt das Kätzchen frei. Er öffnet den Käfig, holt es heraus und stellt es auf die Erde, so dass es seine Mutter sehen kann. Was tut das Kätzchen? Es macht ein paar Sätze zwischen den schnatternden, pfeifenden und piepsenden Vögeln hin und her, rennt beinahe auf die Straße durch die vielen sich schnell bewegenden Beine, dann wieder zurück zu den Vögeln und springt in den Käfig zurück, aus dem es gerade gekommen ist.
Ich springe weiter über die Pfützen, die der Regen in dem weichen Boden des Marktes zurückgelassen hat. Vögel, überall Vögel. Sie leben unter den Augen der Katzen, immer unter deren gleichgültig-aufmerksam wartenden Blick.
Zurück in Damaskus finde ich auch hier ein paar Stunden Winter. Es regnet noch ein bißchen, die Straßen sind schmierig, der Regen hat den Staub gefangen, und der unbefestigte Boden des Tekkye-Marktes ist weich. Ich habe Mühe, in diesem Dreck nicht auszurutschen.
Der Bus von Tadmor (Palmyra) ist auf schnurgeraden Straßen in die Dunkelheit und diese Stadt gefahren. Für den, der von Nordosten kommt und stundenlang nur Sand und Sand und Sand und darin die Beduinenzelte gesehen hat, ist sie eine Oase. Oasís – der Franzose neben mir hat es ausgesprochen, und gerne würde ich es noch einmal von ihm hören.
Ich war eingenickt, der Bus fuhr so ruhig, kaum ein Auto, das entgegenkam, und vor dem Bus überhaupt nichts. Dann muss ich tief geschlafen haben, als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich ein paar Sekunden lang ganz nah ein Schild aus Holz – es konnte mit der Hand gemalt gewesen sein –, auf dem stand: Bagdad.
Hier bin ich? Wirklich? Ungeträumt?
Nicht nach Burgau, nicht nach Bamberg – links geht es hier nach Bagdad!
Und Damaskus ist meine oasís.
Ich bin wieder da.
Ankommen – wiederkommen – heimkommen.
Aber ich bin erst beim Wiederkommen.

Adnan wiederfinden.
Das war einfach.
„Jeden Abend wirst du mich in diesem Café finden, solange ich gesund bin und das Haus verlassen kann. Nur am Dienstag, da ist es geschlossen, da sitze ich in dem Café um die Ecke.“ To spend the time – nannte er das. Dorthin sollte ich zurückkommen und erzählen, was ich erlebt hätte im syrischen Norden. Gemeint war das Café hinter der Omayyad-Moschee, wo ich ihn getroffen hatte und müde vom Gehen und Schauen und Schweigen seiner einladenden Geste gefolgt war, mit der er – an seiner Wasserpfeife ziehend – auf den leeren Stuhl neben sich wies. Der süße Geruch des Wasserpfeifentabaks schloß mich nicht aus, ich setze mich neben ihn, to spend the time. Mit wem und wo – eine Frage, die sich uns allen täglich von neuem stellt und die Adnan einmal für immer für sich entschieden hatte: hier, in diesem Café, oder dienstags in dem Café um die Ecke. Mit seinen Freunden, die wie er täglich hierher kamen, oder mit Fremden, denen er wie mir den Platz neben sich anbot.
Adnan war Rechtsanwalt und arbeitete in der Justizbehörde, an der ich immer vorbeiging, wenn ich den Weg vom Hotel zu seinem Café durch den Souk Hamadia nahm. Mit seiner Arbeit war er am frühen Nachmittag fertig, aber er könnte sich auch ganz frei nehmen, sagte er, wenn ich – was ihm das Liebste gewesen wäre – mir einen ganzen Tag lang von ihm Damaskus zeigen ließe. Dieses Angebot blieb – in aller Höflichkeit weder abgelehnt noch angenommen – bestehen und besteht wohl immer, wenn ich wiederkomme. Er machte es bestimmt häufiger, denn er zeigte den Fremden gerne seine Stadt.

Aber es war nicht seine Stadt. Adnan stammt aus Palästina, sechs Jahre war er alt, als seine Familie aus Jaffa floh und nach Damaskus kam, 1948, als Israel gegründet wurde. Jetzt führte er mich durch die Gassen der Medina, zeigte mir die Viertel, wo die Juden ausgezogen sind, die nach Israel gingen, und wo dann die Palästinenser einzogen. Viele Palästinenser lebten jetzt in den Häusern, die früher von Juden bewohnt waren. Er zeigte mir auch die Straßen, wo Moslems und Juden nebeneinander lebten, denn lange nicht alle Juden sind nach Israel gegangen, sie lebten hier zusammen wie eh und je, und es sei kein Problem, ich könne das ja sehen. Dann führte er mich auch zum Haus seiner Großmutter und sprach von der Angst, die er als kleiner Junge gehabt hatte – hat er jetzt keine? –, wenn er abends zu ihr ging. Damals habe es ja noch keinen Strom hier gegeben. Nun, das kann jetzt auch passieren, dass es plötzlich dunkel wird, weil der Strom ausfällt. Jeden Tag für ein paar Stunden, denn er ist knapp. Und in dieser Gegend gibt es kaum ein Notstromaggregat, das dann einspringt, wie in den Geschäftsstraßen beinahe vor jedem Haus.
Adnan lebte alleine, er sei single, sagte er. Warum? – das ist hier ungewöhnlich. Nun – es habe sich so ergeben, aber seine Schwester und deren Kinder besuchte er oft. Er war klein, trug das glatte graue Haar streng gescheitelt auf den Kopf gelegt und hatte immer eine dicke, bäuerliche Strickjacke an, denn er fror leicht.
Immer wenn Adnan mich im Café erwartete, zog er etwas aus seiner Tasche, das er für mich bereitgehalten hatte: einmal waren es Feigen, dann Kekse, dann einen Granatapfel. Damit ich auf unseren Wegen nicht so schnell hungrig würde, das sollte nicht sein, er erkundigte sich jede halbe Stunde danach, auch ob ich noch laufen könne, oder ob ich schon müde sei. Er schien sich wohlzufühlen in seiner Fürsorge. Ich hätte sie nicht mehr lange ertragen.

Manchmal geriet ich in die Fürsorge eines Mannes, ehe ich mich versah.
Bei einem Abendessen in einem Garten in Aleppo, wo der Kellner sehr bemüht um mich war, mich immer wieder nach meinen Wünschen fragte und sich mehrmals entschuldigte, als es mit meinem Hühnchen nicht so schnell ging, wie er wollte. Aber das war nicht seine einzige Sorge gewesen. Ich hatte selbst schon bemerkt, dass eine Männerrunde ein paar Tische weiter auf mich aufmerksam geworden war, sie schienen über mich zu reden, und dann brachte der Kellner mir eine Flasche Bier – in Aleppo wird Bier meist unverdeckt serviert, nicht wie in Aqaba in einer Teekanne – und sagte, dass diese von eben jenem Tisch herkomme. Ich spürte seinen gespannten Blick auf meinem Gesicht. Schukran, nein, danke, sagte ich nur, und ich wies das Bier höflich entschieden zurück. Der Kellner trug es sehr schnell wieder fort und kam sogleich wieder, ich konnte sehen, wie froh er war, jetzt strahlte er und sagte: Thank you! und noch einmal: thank you! den Kopf dabei schüttelnd, und erleichtert, als fiele ihm eine schwere Last vom Herzen, setzte er sich kurz an den übernächsten Tisch und erklärte aufatmend: l only want that you are happy here. Augenblicklich übernimmt ein Mann, der dich alleine sieht, die Verantwortung für dich vor allen Anfechtungen der Welt. Der Taxichauffeur in Lattakia, der auf meine Tasche achtete, als ich ins Wasser ging, auch er wartete wachsam auf meine Antwort, als ein junger Mann mich zu einem Kaffee einlud. Und ich habe hier ebenso nur danke und nein gesagt. Kaum hatten wir uns ein paar Schritte entfernt, fing er zu schimpfen an donkey! und noch einmal: donkey. Und zu mir sagte er: You are a good woman, und brachte mich in dieser Weise zufrieden in die Stadt zurück.

Von diesen Erlebnissen habe ich Adnan nicht erzählt, als er sich anschickte in Damaskus die Fürsorge für mich zu übernehmen.
Bevor wir losgingen, tranken wir noch einen Kaffee und Adnan gab zwei kleinen Jungen, die ein bißchen Geld verdienen wollten und sich mit ihrem Kasten voller Bürsten und Cremes zum Putzen der Schuhe anboten, seine noch fast sauberen Slipper. Als sie mit den nun noch glänzenderen Schuhen wiederkamen, fragte er mit einem Blick auf meine staubigen Reiseschuhe, ob ich sie auch geputzt haben wolle, und da es offensichtlich war, dass es denen guttun würde, zog ich sie aus, bekam dafür ein Paar Pantoffeln an die Füße, und die beiden Jungen verschwanden mit meinen Schuhen zu ihrer Arbeit. Als sie sie zurückbrachten, waren die bis dahin blau-grün gestreiften Schnürsenkel zwischen den Löchern so schwarz wie der ganze Schuh. Adnan gab den Kindern das verdiente Geld, sie hätten mehr gewollt – erzählte er mir dann –, denn ich sei doch eine Touristin, aber er habe abgelehnt. Die Jungen blieben noch ein Weilchen nachdenklich stehen: zu wem gehört er nun – zu ihr oder zu uns?

Der Kaffee war getrunken, die Pfeife geraucht, wollen wir gehen? So gingen wir.
Zuerst habe ich mich dagegen gewehrt, dass Adnan jedesmal, wenn wir eine Straße überquerten, nach meiner Hand griff und sie festhalten wollte, wenn ich mich nicht losgemacht hätte. Was sollte das, wäre ich denn hier, wenn ich dies nötig hätte? – versuchte ich lachend zu erklären. Wie stellte er sich das vor, wenn ich keinen Schritt alleine machen könnte. Er gab mir zögernd recht, doch dann auch wieder nicht – denn ich könne mir nicht vorstellen, wie gefährlich es in Syrien sei, und meine Leichtfertigkeit sei nur durch eine ebenso große Ahnungslosigkeit zu entschuldigen. Jedes Auto – und deren gab es hier wirklich eine unendliche Menge – war eine Gefahr. Alle diese Autos – und das war das Entscheidende – hatten es nach der Meinung Adnans auf uns abgesehen. Und nicht nur sie: die Radfahrer auch. Als uns bei unseren Wegen durch die Altstadt ein Junge knapp, aber geschickt überholte, da hatte er den Beweis: Hast du es gesehen? Hast du gesehen, was er wollte? Einen Unfall wollte er machen, uns anfahren, damit wir hinfallen, so machen sie es immer, und wenn man nicht schnell wegspringt, ist es passiert.
Dann müssen die Leute hier gut springen können, ich habe nie jemanden hinfallen, ja überhaupt keinen Unfall gesehen.
Ich habe wieder gelacht und gesagt: nein, der wusste genau, was er machte, er fuhr sicher und gut, sonst gar nichts. – Meinst du? – Bestimmt. – Wenn du meinst –. Er sagte nichts mehr, aber bei dem nächsten Radfahrer zog er mich wieder zur Seite. Überhaupt achtete er immer darauf, dass ich an der Hauswand ging. Das erforderte bei unseren gewundenen Wegen ein häufiges Wechseln der Seiten und meiner Hand. Des ständigen Losmachens und Abschüttelns müde habe ich ihm diese schließlich überlassen, was er dankbar vermerkte: Eine andere Deutsche, der er Damaskus gezeigt habe, sei beleidigt gewesen, wenn er ihre Hand nehmen wollte. Das muss daran gelegen haben, dass sie eine Professorin gewesen sei, meinte er.

Um Adnan wiederzufinden, würde ich heute allein am Abend durch den Souk gehen müssen. Davor hatte er mich sehr eindringlich gewarnt, immer brachte er mich ins Hotel zurück – das ich kurz darauf wieder verließ – an der Justizbehörde vorbei, mit leiser Stimme warnend: Vielleicht sind wir ja alle Verbrecher, auch du, auch ich, vielleicht?
Was ihn am meisten verstimmte und traurig machte, war, dass ich nun, aus Aleppo und Palmyra zurück, noch weniger Angst hatte – nämlich gar keine –, abends durch den Souk zu gehen, als zuvor bei meinem ersten Mal in Damaskus.

Da waren seine Warnungen auf mein Erschrecken getroffen: dieser Überfall von Schmutz und Lärm, der sich noch steigern und mich in Gestalt eines Notstromaggregats auf dem Bürgersteig plötzlich anfallen konnte, oder dem Hupen vor allem der Busse, das schon mit ihrem Aufbruch am frühen Morgen einsetzte, gleich nach dem Ruf des Muezzins von der Großen Moschee. Niemals wurde nur einmal oder zweimal gehupt, sondern immer zweimal zweimal: tüt-tüt, tüt-tüt, soviele Warnungen kann es gar nicht geben, was sehen sie denn. Auch der Muezzin rief hier lauter als irgendwo anders, nicht vom Tonband, sondern jedesmal neu, ich schreckte aus dem Morgenschlaf hoch, es war, als riefe er in mein Fenster herein.

Und diese Autos. Die Taxis hatten das gleiche Gelb wie in Jordanien, nur war hier ein Golf, was dort ein Mercedes gewesen war. Es gab kein Auto, das nicht an irgendeiner Stelle kaputt gewesen wäre. Alt genug waren sie ja, die Modelle: viele Peugeots, Ford Taunus und Opel Kapitän, Rekord und Olympia – auf die schwungvolle Linie ihrer ehemals vorhandenen Zierleisten an den Seiten wiesen nur noch die leeren Löcher im Blech hin. Mit einem solchen Auto hat mich mein Vater bei meiner Konfirmation in die Kirche gefahren. Vielleicht fährt es jetzt oder einer seiner Nachfolger hier herum –
Adnan beschwerte sich über mein Schweigen. Aber wie hätte ich ihm das alles sagen sollen. Er will von mir Neues erfahren – er konnte ja nicht wissen, dass es das Älteste war, wie hätte er sich das vorstellen können.
Immer wieder verlangte er von mir, dass ich erzählte, von meiner Reise und von allen anderen Reisen und von Deutschland. Dann war er zufrieden, nickte und lächelte.
Adnan verließ Damaskus kaum, er kannte alle Verbindungen, die aus Damaskus fortführten oder hier endeten, denn er begleitete seine Gäste oft, wenn sie seine Stadt wieder verließen. Dabei sprach er immer wieder davon, dass er die, denen er diese Stadt gezeigt hatte, besuchen wollte. Er empfing ihre Dankbriefe und ihre Geschenke: Bildbände, die die Länder zeigten, aus denen sie gekommen waren, und er legte sie mir stolz vor, als ich schließlich doch einmal seinem Vorschlag folgte, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Er wollte mit seiner Schwester telefonieren, um ihr den heutigen Besuch abzusagen, weil ich wiedergekommen war. Sieben Schlösser musste er aufschließen, um in seine Wohnung zu gelangen, und sich dann durch eine schmale Öffnung zwängen, weil dahinter ein Stuhl stand, auf den er erst steigen musste, um die Sicherung hinein zu drehen, die er immer, wenn er seine Wohnung verließ, herausschraubte. Es könnte sonst eine Explosion geben, wenn er nicht da war, erklärte er mir.
Er führte mich in das Zimmer, in dem er Besuch empfing: Da standen vier schwere verzierte Plüschstühle und ein dazu passendes Sofa, er hat die Dinge für sich anfertigen lassen in einer der Werkstätten, auf die er mich immer aufmerksam machte, wenn wir daran vorbeigingen. Es sah alles sehr unbenutzt aus, und ich zog das Wohnzimmer vor, um auf ihn zu warten. Er gab mir inzwischen einen Photoband von Schleswig-Holstein, die Fachwerkhäuser mit den Reetdächern gefielen ihm so gut – ob mein Haus auch so ein Dach habe? – Nein, es hat ein ganz anderes. – Ich suche nach einem Haus mit braunen Dachziegeln, um es ihm zu zeigen. Und die grünen Gärten um die Häuser, die hatten es ihm angetan. So ein Haus würde er auch gerne haben.
Als er vom Telefon zurückkam, erzählte er, dass seine Schwester gefragt habe, warum ich in einem Hotel wohnte. Das nächste Mal, sollte ich das nicht wieder tun.

Ich werde, wenn ich nach Damaskus heimkomme, nicht bei ihm wohnen. Das ist sicher. Ich würde dort nicht die Ruhe finden, die mich hungrig auf das Neue macht. Die finde ich nur unterwegs, wenn niemand weiß, wo ich bin, niemand. Niemand.
Auch die Briefe nach Hause tragen als Absender nicht mehr als meinen Namen. Vielleicht war das dem syrischen Geheimdienst nicht genug.
Der Brief aus Damaskus erreicht meinen Freund, als ich schon drei Tage wieder da bin. So hat er zwei Wochen gebraucht. Eingeworfen in der Hauptpost, nachdem ich im Café noch zwei Seiten geschrieben und das Ganze zusammengefügt hatte: den Teil aus Amman, alle jordanischen Postkarten von Aqaba bis Irbid, die schönste auch: der Blick aufs Tote Meer von dieser Seite.
Beinahe wäre ich wirklich einem überholenden Auto, das ich nicht gesehen habe, in die Räder gelaufen, knapp konnte es noch bremsen, als der Kühler mich schon berührte. Ich habe die Marken besonders sorgfältig geklebt und am Schalter gefragt, ob die Frankierung richtig sei. Wollte keinen Fehler machen. Der Beamte wog ab und rechnete, und warf den Brief mit Schwung in eine Box mit vielen Luftpostbriefen. Gut. Von hier also acht Tage, so ist er vor mir da. Ich bin aus der Post gegangen, herumschweifend zurück zu meinem Hotel, über den alten Markt, wo ich auf jeden Schritt achtgeben musste, dabei den Brief noch immer vor meinen Augen, der jetzt auf die Reise nach Hause gehen sollte.
Vormittag. Das noch dickbauchige Fladenbrot wird auf den Kofferraumdeckeln abgekühlt, bis die Luft daraus entwichen ist und man es so flach, wie wir es kennen, stapeln kann. Je näher ich dem Justizgebäude komme, umso mehr Schreiber finden sich auf dem Bürgersteig. Sie haben ihre kleinen Kabinen aufgeschlossen oder ihre Tischchen aufgestellt, auf denen sie mit der Hand oder auch mit einer Schreibmaschine – je nach dem, was der Kunde bezahlen kann – die Anträge und Gesuche anfertigen. Die Schreiber haben viel zu tun und mittags werden sie wieder verschwunden sein.

Meinen Brief hat jemand wieder aus der Box genommen, die Anschrift gelesen, keinen vollständigen Absender gefunden, nur den Namen des Hotels, in dem ich eine Nacht  verbracht habe, ohne Adresse, die habe ich mit den Briefmarken überklebt, das hat er gesehen und den Brief aufgemacht. Zehn Tage hat es gedauert, bis er gelesen war und wieder zugeklebt worden ist und abfliegen konnte. Syrien ist Israels Feind. „Sag niemandem, dass du nach Israel gehst. Sag es niemandem, nicht hier und nicht in Amman. Sprich mit niemandem darüber ausser mit mir.“ So Adnan. „We are living in dangerous times!“ War sein Urteil.

Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt und es ist nie wieder gutzumachen…

Aber mir ließ mein K. in Damischk keine Chance, auch in den dunkelsten Winkeln der Altstadt nur eine kleine Spur von Unheimlichem zu entdecken.
Eine Medina ohne Herzklopfen.

Jenseits dieser Grenze werden Drachen sein?

Doch bis ich dahin komme, musste ich in seiner Obhut bleiben, bis zum letzten Augenblick. Bis er mich an die Bushaltestelle begleitete, für mich an den Schalter ging, um zu hören, was er mir sowieso schon gesagt hatte: dass man in den Bus nach Amman, auch wenn er halb leer war, heute nicht mehr zusteigen konnte. Planlos wie ich war, hatte ich am Tag zuvor nicht reservieren wollen, der Abschied von Damaskus fiel mir schwer.
Ich bin immer so lange geblieben, bis mir der Abschied schwerfiel.

Aber jetzt war ich hier um abzufahren. Also kein Bus, dann ein Taxi. Mit Adnan zum Schalter für die Service-Taxen. Wieder fragte er für mich und verlangte das Ticket. Weil er sah, dass mir kaum mehr syrisches Geld blieb – vom Wechseln eines weiteren größeren Scheines hatte er mir ganz entschieden abgeraten –, kaufte er im Vorbeigehen noch eine Dose Cola und drückte sie mir in die Hand. Ich hatte ja noch die Feigen von vorhin und abends zählte wieder das jordanische Geld. Adnan führte mich nun zu den Taxen nach Amman, vorbei an den Fahrern, die Bayrut! Bayrut! riefen. Schade. Ich schüttelte einmal wieder bedauernd den Kopf. Bayrut. Das nächste Mal – Adnan gab mein Ticket einem Fahrer, der mir sofort mein Gepäck abnahm und es in dem Kofferraum eines der riesigen uralten Autos versenkte. Dort hinein sollte ich mich setzen und den Platz bis zur Abfahrt möglichst nicht mehr verlassen. Adnans Ratschläge begleiteten mich immer noch, lange konnte es ja nicht mehr dauern, es fehlte nur noch ein Mitfahrer. Seine Adresse gab mir Adnan nicht, so dass auch ich ihm schreiben und die Bilder schicken konnte, an die ich da immer noch glaubte, von den Brunnen, den Hammams und den Karawansereien – bitte, zeige mir die schönsten, und er hatte es nur zu gerne getan. Aber seine Adresse wollte er nicht in meinen Händen wissen, es sei zu gefährlich, schließlich ging ich nach Israel zurück.

Sollte er recht haben?

Assad – good?
Damit hatte ein Gespräch angefangen, als ich Damaskus zum ersten Mal verließ und nach Aleppo fuhr. Der Busfahrer, neben dem ich wie immer saß, lehnte jedes englische Wort entschieden ab, auch der Mann rechts von mir hatte den Kopf geschüttelt, als ich es damit versuchte. Aber die Fahrt, die wir vor uns hatten, war lang, ich habe meine Karte und den Reiseführer hervorgeholt, der bei den um mich herum sitzenden Männern großes Interesse fand, er wanderte bis in die dritte oder vierte Reihe. Dann wurde er mir dankend zurückgegeben, mit einer leichten Verneigung des Kopfes, als hätte ich ihnen gerade ein Geschenk gemacht. Immer noch zwei Stunden bis Homs.
Assad – good? Mein rechter Nachbar richtete das Wort an mich, es war eine Frage, er lachte und nickte auffordernd dazu, ich nickte auch, natürlich: Assad good. Billy Clinton? – Donkey! fuhr er fort, dann kreuzte er die beiden Zeigefinger: Rabin? – Donkey! Jetzt lachte er nicht mehr. Dann fragte er mich weiter: Honecker? – ich habe nicht verstanden –, er noch einmal, zweimal, bis ich begriff, ach so: Honecker!
Aha. Honecker – good. Hitler – was? – good. Jetzt lachte auch der Fahrer. Aber: Peres – donkey! Dann gab es nichts mehr zu lachen.
Mit dem geringen Umfang unseres gemeinsamen Wortschatzes waren wir hier am Ende. Ich schwieg nachdenklich. Hier bin ich also.
Es wurde dunkel. In einer Stunde stieg ich aus.

So habe ich keine Adresse von Adnan. Ich habe ihm zuletzt noch meine gegeben und ihm gesagt, dann solle er mir eben schreiben, auf jeden Fall, wenn er nach Deutschland kommt.
Ich habe bis heute keine Nachricht von ihm.

Nein,  Adnan würde mir wie mein Freund nicht auf den zugefrorenen See folgen, auch nicht auf einen kleinen Teich. Er würde auch mit gequältem Gesichtsausdruck auf dem sicheren Grund stehenbleiben, den Ärger darüber unterdrücken, dass ich lache, und erst wieder ruhig werden, wenn auch unter meinen Füßen wieder Boden wäre und wir uns von dem Eis schon so weit entfernt hätten, dass ich nicht mehr mit wenigen Schritten dorthin zurückkehren kann.
Und ich sollte ihn – das Versprechen hatte er mir abgenommen –, wenn er nach Deutschland kam, ebenso beschützen, wie er es getan hat, als ich in Damaskus war. Gerade ich?!
Zurück in Deutschland passiert es mir noch weit nach Weihnachten, dass ich mich allein auf einem Zebrastreifen ertappe, wenn ich zu Fuß unterwegs bin, weil ich – die Autos von beiden Seiten im Auge – die Ampeln vergessen habe.
Gut, dass Adnan das nicht weiß.

© H. Tarnowski

 


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de