Eine Konstruktion wird dekonstruiert

Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ zerfällt in Einzelteile

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter der Überschrift „Books of the Century“ veranstaltete die International Sociological Association im Jahr 1998 eine Befragung aller ihrer Mitglieder. Sie sollten angeben, welche fünf soziologischen Bücher aus dem 20. Jahrhundert am einflussreichsten für die jeweils eigene wissenschaftliche Arbeit geworden waren. Den ersten Platz eroberte das Buch eines deutschen Soziologen: Wirtschaft und Gesellschaft von Max Weber.Korrekterweise sollte man sagen, dass die internationale Soziologiegemeinschaft nicht ein Buch mit diesem deutschen Titel platziert hatte, sondern ein Buch mit dem Titel Economy and Society. Wer sich auch nur flüchtig mit bisherigen Übersetzungen dieser deutschen Publikation befasst, weiß, dass von überaus unterschiedlichen Büchern gesprochen werden muss. Eines jedoch verbindet alle Versionen, in welcher Sprache auch immer: In jedem Fall handelt es sich bei diesem so genannten Buch um ein Fragment, eine Konstruktion, eine textliche Fiktion.

Bald gibt es dieses Buch nicht mehr: Sollten Sie noch eine seiner früheren Ausgaben besitzen, werfen Sie es nicht weg! Die unter diesem Titel international berühmt gewordene Textsammlung ist ein Fragment, dessen Entstehungsgeschichte seine komplizierte Archäologie bewirkte, die hier nur angedeutet werden kann: Im Jahr 1909 wurde Weber von dem Tübinger Verleger Paul Siebeck als Herausgeber des geplanten Sammelwerkes Grundriss der Sozialökonomik gewonnen. Erhebliche Verzögerungen bei der Abgabe der bei den Kollegen bestellten Beiträge und ihn enttäuschende Resultate motivierten Weber dazu, seine eigenen Beiträge erheblich zu erweitern. Für die dritte Abteilung, die insgesamt Wirtschaft und Gesellschaft überschrieben werden sollte, waren ursprünglich zwei Teile geplant: einer vom Herausgeber Max Weber selber über „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“ und einer von Eugen von Philippovich über „Entwicklungsgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme und Ideale“. Im „Vorwort“ zum gesamten Unternehmen charakterisierte Weber die Zielrichtung seines eigenen Beitrags: „Ausgiebiger, als dies gewöhnlich geschieht, sind […] die Beziehungen der Wirtschaft […] zu den gesellschaftlichen Ordnungen behandelt worden. Und zwar absichtlich so, daß dadurch auch die Autonomie dieser Sphären gegenüber der Wirtschaft deutlich hervortritt: Es wurde von der Anschauung ausgegangen, daß die Entfaltung der Wirtschaft vor allem als eine besondere Teilerscheinung der allgemeinen Rationalisierung des Lebens begriffen werden müsse.“ (Grundriss der Sozialökonomik, I. Abt. Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft. Tübingen 1914, S. VII) Im Jahr 1914 erschien der erste Band des Grundriss, der Erste Weltkrieg bedingte, dass der letzte von insgesamt zwölf Bänden erst 1930 veröffentlicht wurde, zehn Jahre nach Webers Tod am 14. Juni 1920.




Titelbild

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband I: Gemeinschaften.
Herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Michael Mayer.
Mohr Siebeck, Tübingen 2001.
401 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3161475585

Weitere Informationen zum Buch

Titelbild

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 4: Herrschaft.
Herausgegeben von Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll.
Mohr Siebeck, Tübingen 2005.
943 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3161486943

Weitere Informationen zum Buch

Titelbild

Max Weber: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. Schriften und Reden 1900-1912. Ergänzungsheft.
Herausgegeben von Wolfgang Schluchter.
Mohr Siebeck, Tübingen 2005.
59 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3161487672

Weitere Informationen zum Buch

Aus der Sonderausgabe von Dirk Kaesler: Über Max Weber. Beiträge in literaturkritik.de 2006 – 2020 (Verlag LiteraturWissenschaft.de)