Felix Haas schrieb uns am 30.07.2018
Thema: Franz Hessel: Heimliches Berlin
Berlins 1920er - Arm aber Sexy
Kabarett, Tanzsäle, eine Welt zwischen zwei Kriegen. Viele Bilder kommen uns in den Sinn, wenn wir an das Berlin der 20er Jahre denken; viele davon finden sich in Franz Hessels kleinem Großstadtroman "Heimliches Berlin" aus dem Jahre 1927 wieder.
Als Schriftsteller und Übersetzer lebte Hessel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Berlin, Paris und München. Als Soldat überlebte er den ersten Weltkrieg, um schließlich 1941 an den Folgen seiner Lagerhaft im südfranzösischen Exil zu sterben. Hessel war vielen Großen seiner Zeit nahe, zählte Alfred Polgar, Walter Benjamin und Ernst Rowohlt zu seinen Freunden. "Heimliches Berlin" ist nicht nur Hommage an das Berlin der 20er Jahre, sondern in weiten Teilen auch Aufarbeitung Hessels eigenen Lebens.
Hessels Roman ist wie der Pulsschlag jener Zeit: schnell, unerbittlich, immer am Abgrund. In dreizehn kurzen Kapiteln führt er uns eine Schar von Figuren vor, von denen viele ebenso schnell wieder in der Berliner Nacht verschwinden, wie sie aus ihr hervorgetreten sind. Bohemiens, Studenten, Tänzerinnen und Lebemänner reihen sich aneinander.
Im Zentrum dieses Geflechts steht die Dreiecksbeziehung von Clemens und Karola Kestner mit dem Studenten Wendelin von Domrau, der so etwas wie ein Protagonist ist, sollte man dem Roman einen solchen zusprechen wollen. Fokuspunkt der verschiedenen Charaktere ist Karola, die nicht nur von Clemens und Wendelin geliebt, sondern auch von dem wohlhabenden Geschäftsmann Eißner begehrt wird. Dieser möchte sie nach Italien entführen, macht jedoch den "Eindruck eines der frühen Bibeltyrannen". Karola lebt zwischen diesen zwei Welten. Auf der einen Seite hat sie ihr Leben als Mutter und Ehefrau, auf der anderen die Tanzsäle und Kneipen der Berliner Nächte. Ihr Mann Clemens ist ihr in vielem grundsätzlich verschieden. Was Karola in ihrer Außenwelt sucht, sucht er in seiner inneren. Er ist Professor für Philologie und scheint das Leben mehr zu beobachten und zu kommentieren, als sich ihm wie seine Frau auszuliefern. Nicht nur in dieser Beobachterrolle zeigt er gewisse Ähnlichkeiten zu Gustav von Aschenbach, Thomas Manns Held aus dem "Tod in Venedig", sondern auch in seiner Beziehung zu Wendelin, den er zwar nicht im gleichen Maße liebt wie Aschenbach den jungen Tadzio, jedoch ihm gleichwohl gesteht: "Ich brauche dich […]. Deine Jugend macht mir Lust, 'noch im Leben zu verbleiben'."
Die Handlung des Romans umspannt 24 Stunden eines Tages im Frühjahr 1924, einer Zeit, in der wir viele Parallelen im Leben des Autors zu denen seiner Charaktere finden: Über ein Jahrzehnt lebte dieser in einer Dreiecksbeziehung mit seiner Ehefrau Helen Grund und seinem Freund Henri-Pierre Roché.
Doch sollten Clemens, Karola und Wendelin nicht die einzige Romanadaptation dieses Verhältnisses bleiben. François Truffauts Nouvelle Vague Klassiker "Jules und Jim" aus dem Jahre 1962 basiert auf Rochés gleichnamigen Roman, welcher von eben derselben Beziehung inspiriert ist. Während Hessel seinen drei Charakteren nur einen Tag und eine Nacht gibt und ihre Umstände merklich von denen ihrer Vorlagen entrückt, bleibt Roché in seinem Roman der wirklichen Beziehung zu Helen und Franz treuer und schildert sie über ein ganzes Jahrzehnt hinweg. Interessant ist auch, dass Jules – Hessels Counterpart bei Roché – eine deutlich aktivere Rolle einnimmt, als Clemens dies ins Hessels Eigendarstellung tut. Dieser bleibt den "Spelunken und Tanzhöhlen", in denen ein wichtiger Teil Karolas und Wendelins Leben spielt, fern, schafft dem Leser und Hessels Charakteren durch seine Beobachtungen aber Klarheit über ihre Wünsche und Motivationen. Diese sind dabei nicht nur für Karola und Wendelin wichtig, sondern scheinen auch für Clemens selbst entscheidend. So erwidert Karola ihm etwas theatralisch gegen Ende des Romans: "…[I]ch Arme muß wieder auf Abenteuer in dunkler Nacht. Was ich auch auf mich nehme, ist nur ein Spiel zu deiner Unterhaltung."
In einem seiner Gespräche mit Wendelin ist es abermals Clemens, der den Ursprung jenes Verlangens festhält, welches diesen kurzen Roman durchzieht: "Das Leben ist überall für dich da, gratis zu jeder Tageszeit, […] genieße alles, besitze nichts." Auf nahezu jeder Seite verspürt der Leser diese verzweifelte Gier nach dem Leben, als ob die Charaktere wüssten, in welcher Katastrophe ihr Jahrzehnt enden würde. In diesem Sog bilden Clemens reflektierende, monologartige Konversationen mit Wendelin eine der wenigen Ruhepunkte. Hier versucht der Autor auch dem Leser Einblick in den Grund dafür zu gewähren, warum er und sein Charakter einen weiteren Mann neben sich dulden müssen: "Ich habe es wohl nie begriffen, daß zum Lieben Besitzen gehört. Da müsste man sich ja das geliebte Wesen aneignen […], und was man mit sich vereint, das ändert man. Ich aber möchte alles erhalten". Wir erkennen dieses Laissez-faire jedoch schnell als deutlich weniger altruistisch wie es zunächst scheinen mag. Clemens braucht Karola sowohl ihrer selbst wegen als auch als Brücke in jene andere Welt, in der Wendelin lebt und die ihm so viel Schönheit gibt.
Trotz der Dreiecksbeziehung in seinem Zentrum bleibt "Heimliches Berlin" eine Collage aus Episoden, deren Ambition sicher hinter den großen autobiographischen Großstadtromanen seiner Zeit – Hemingways "Paris - Ein Fest fürs Leben" oder Millers "Wendekreis des Krebses" etwa – zurückbleibt. Dennoch ist der schnell gelesene Roman die Zeit seiner Leser wert, denn dort tanzen wir mit Karola und Eißners Freundin Freo, spazieren mit Clemens und Wendelin am Landwehrkanal und leben mit ihnen in ihrem "heimlichen Berlin, hier im alten Westen" in dem "nur Jugend […] schön" und das "einzige[…] Laster [die] Armut" ist.
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