Leserbriefe zur Rezension

Selektierendes Mitleid

Rudolf Kreis über die Gedächtnislücken deutscher Geschichte Rudolf Kreis über die Gedächtnislücken deutscher Geschichte

Von Alfred Bodenheimer


Helge Karlitzky schrieb uns am 22.10.2005
Thema: Alfred Bodenheimer: Selektierendes Mitleid

Sehr geehrter Herr Bodenheimer,
in der Vorbereitung eines Vortrages zu Heines 150. Todestag bin ich auch an das Buch von Rudolf Kreis geraten. Sie haben es sehr wohlwollend besprochen, allerdings auch angedeutet, dass statt wissenschaftlicher Sachlichkeit eine gewisse Wahnvorstellung dieses Werk geprägt hat. Da kehrt sich etwas in tragischer Weise um, das Amos Oz in "Dem Tod entgegen" beschrieben hat: Wie in der christlichen Welt einst Verschwörung der Juden herumspukte, spukt jetzt im Kopf des Autors die Verschwörung gegen die Juden herum. Sie wird in jedes Wort hineininterpretiert. Ein typisches Beispiel ist Kreis' Auslegung der Heine Stelle aus "Die Reise nach Genua" (S. 46-49). Offensichtlich sind die Geschichtskenntnisse des Autors sehr lückenhaft: Er weiß nicht, auf was Heine mit den "heiligen Allianzhänden" anspielt und gegen wen strenge Vorkehrungen von dieser "Heiligen Allianz", dem Bund von Thron und Altar, getroffen worden sind. Für Kreis natürlich gegen den Juden. Dass die von der "Heiligen Allianz" verfolgte und verbotene "Deutsche Burschenschaft" jüdisch war, ist mir neu. Aber Heine war eben nicht nur Jude, sondern auch ein deutscher Liberaler im Kampf gegen Metternich - und als solcher ist er verboten und verfolgt worden wie viele Nichtjuden auch.
Wie gesagt, das ist nur ein Beispiel für die Art, in der Kreis die Geschichte und die Literatur sich zurechtinterpretiert.
  Uminterpretation heute: Heine leidet immer unter dem Antisemitismus und geißelt ihn auch überall mit seinem Witz:
Typisch dafür Rudolf Kreis in seinem Buch „Antisemitismus und Kirche“. Er zitiert eine Stelle aus Heines „Reise von München nach Genua“, in der geschildert wird, wie ein Adeliger und ein Geistlicher in einem Gasthof zu Brixen die schöne Bedienung sexuell „anmachen“ / belästigen, bis diese den Raum verlässt und mit einem kleinen Kind auf dem Arm wieder erscheint. Heine schreibt weiter: „Die beiden Kumpane aber, der geistliche und der adelige Herr, wagten keine einzige Belästigung mehr gegen das Mädchen , das jetzt ohne Unfreundlichkeit, jedoch mit seltsamem Ernst sie bediente - das Gespräch nahm eine andere Wendung, beide schwatzten jetzt das gewöhnliche Geschwätz von der großen Verschwörung gegen Thron und Altar, sie verständigten sich über die Notwendigkeit strenger Maßregeln und reichten sich mehrmals die heiligen Allianzhände.“
Wie interpretiert Kreis den Schluss dieser Szene?
„…Der für den Altar stehende Geistliche und der für den Thron stehende Adelige {einleuchtend!!!} ersetzen die entblößte Frau durch den Weltverschwörer gegen den Geist des Abendlandes: >den Juden<. Heine brauchte nicht ausdrücklich zu erwähnen, dass das damals von Kirche und Adel mit allen Künsten der Hysterisierung aufgeladene Reizwort von der Weltverschwörung sein Volk meinte! >Die Juden< machte man für alles verantwortlich, was des Teufels war, für die Freimaurer, den Terror der Jakobiner, das Gespenst des Kommunismus … Noch Hitler lebte im Wahn der jüdischen Weltverschwörung. Entheiligten sich die Hände der Herren zuvor an dem Leib der jungen Frau, so gewinnen sie nunmehr den Status >heiliger Allianzhände> zurück, die sich zu strengen Maßregeln gegen >die Juden<  vereinen. Auch wenn Heine es an dieser Stelle unerwähnt lässt, so reagiert sein Werk geradezu leitmotivisch immer wieder …“ (S. 47f)
Mit freundlichen Grüßen
Helge Karlitzky, 1170 Wien