Kolossales Versagen
Im dritten Teil seiner Biografie über Wilhelm II. beschreibt John C.G. Röhl die maßgebende Rolle des Kaisers auf dem "Weg in den Abgrund 1900-1941"
Von H.-Georg Lützenkirchen
Beeindruckend, diese Biografie. Und dabei handelt es sich bei dem vorliegenden über 1.500 Seiten starken Buch "Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941" ,nur' um den letzten Band der Trilogie über den deutschen Kaiser. Bereits 2001 erschienen die ebenso umfangreichen Bände "Die Jugend des Kaisers" und "Der Aufbau der persönlichen Monarchie". Blättert man durch das Inhaltsverzeichnis des vorliegenden dritten Teils, dann fällt freilich eine kuriose Unverhältnismäßigkeit auf: auf nur wenigen Seiten schildert Röhl Scheitern und Untergang des Kaiser vom Beginn des Krieges bis zu seinem Tod 1941 in Doorn. Der Grund hierfür, so erläutert der Autor, ist, "daß mit Kriegsbeginn Wilhelm politisch dramatisch an Bedeutung einbüßt, militärisch ohnehin nie Bedeutung erlangt." Der Kaiser hatte keine Macht mehr, und "in demselben Maße wie er in den Hintergrund tritt, genügt auch weniger Raum".
Bis 1914 aber hatte Wilhelm "Herrschaft und Verantwortung in Händen." Und das zu zeigen ist das besondere Anliegen dieser Biografie. Hierzu benutzt der ausgewiesene ,Wilhelm-Kenner' einen gewaltigen Quellenfundus, dessen teilweise neu entdeckte Dokumente er sorgsam aufbereitet und ausgiebig in seinen Text eingliedert. So entsteht geradezu ein historisches Lesebuch, das den Leser sehr nah an den Kaiser und sein Umfeld heranzuführen versteht.
Besteht in der Bewertung der Kaiserzeit Wilhelms einerseits Einvernehmen über den hohlen Glanz dieser Ära, so ist andererseits zuweilen strittig, ob und inwieweit der ,kolossale' Kaiser tatsächlich die Politik entscheidend mitbestimmte, oder er doch nur Staffage für die Politik der Reichskanzler, der Militärs oder der Diplomaten war.
Beispielhaft hierfür steht die von 1900 bis 1909 andauernde Kanzlerschaft Bernhard Fürst von Bülows. Die Beziehung zwischen dem Kaiser und seinem "Bülowchen" ist immer wieder dahingehend untersucht worden, ob und wie sehr es dem Kanzler gelang, eine eigenständige Politik im Zweifelsfalle auch gegen die Ambitionen des Kaisers durchzusetzen. Bülows bereits die Zeitgenossen irritierende Unterwürfigkeit dem Kaiser gegenüber, seine Anpassungsbereitschaft wird als "berechnende Unterwürfigkeit" interpretiert, mit der es ihm gelang, den Kaiser im Glauben zu lassen, er selbst sei Herr des Verfahrens. Diese Interpretation erscheint Röhl "unglaubwürdig". Das Vertrauensverhältnis Bülows zum Kaiser war eine conditio sine qua non. Egal wie der Kanzler sein Amt hätte ausfüllen wollen, gegen oder mit dem Kaiser, er hätte es verloren, wenn dieses Verhältnis gestört worden wäre. Zudem betont Röhl: "Solche Konflikte müssten aktenkundig geworden sein". In dem imposanten Quellenmaterial, das Röhl für seine Biografie auswertete, fand sich indes nichts dergleichen. Der Kaiser, so Röhls zentrale Erkenntnis, was Dreh- und Angelpunkt aller politischen Entscheidungen.
Und das zum Schaden des Reichs. Denn des Kaisers autokratische, ruhmsüchtige, chaotische Herrschaftsform konnte sich ungehindert als politikgestaltender Faktor entfalten, eben weil von keiner Seite Einhalt geboten oder auch nur korrigierend eingegriffen wurde, was getan zu haben zumindest Bülow sich immer zugute hielt. Eine "byzantinische Rückgratlosigkeit" kennzeichnete die den Kaiser hofierende Gesellschaft und tat ein Übriges zum "polykratischen Chaos" in der Reichsführung. Bis zum Kriegsausbruch blieb zutreffend, was bereits Zeitgenossen zur Charakterisierung des Kaisers und seiner Herrschaft beobachtet hatten. Röhl zitiert ausführlich aus den Memoiren einer dem Kaiser nahestehenden Person: so angenehm der Kaiser auch persönlich sei, gerade das behindere seine Herrscherqualitäten. "Er ist zu impulsiv, zu sehr Gefühls- und Augenblicksmensch, um große Verhältnisse zu meistern u. zu überblicken." Wesentlicher aber noch erscheint, dass er dazu neige, alles nach dem "Standpunkt des jüngeren Gardeoffiziers" zu bewerten, "der an die große Welt der Politik mit der Naivität des Kasinostandpunktes herantritt." Es fehlt "die Tiefe der Beurteilung. Kolossales Selbstbewußtsein und viel ,Renomaya' aber wenig Courage".
Derart dilettierend steuerte der Kaiser ein ums andere Mal jeweils nur knapp an der politischen Katastrophe vorbei. Lässt sich überhaupt irgendein außenpolitisches Ziel der deutschen Politik in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg bestimmen, dann mag es in dem Bemühen zu finden sein, eine internationale Isolation des Reichs zu verhindern. Dieses Ziel wurde grandios verfehlt. Weder mit dem "lieben Nikki", dem russischen Zaren Nikolaus II, noch mit den in selbstquälerischer Abneigung betrachteten englischen Königshausverwandten gelangen tragfähige Verabredungen. Immer dann, wenn Wilhelm zum "Panthersprung" (benannt nach dem Kanonenboot "Panther", das vor Agadir im Sommer 1911 die zweite Marokkokrise auslöste) auf eine Position im Bund der Großmächte ansetzte und großmannsüchtig Ansprüche durchzusetzen versuchte, scheiterte er in dem Moment, da ihm ernsthafter Widerstand entgegenschlug und es eines durchdachten Konzeptes bedurft hätte. Jedes dieser kurzatmigen politischen Abenteuer zur Erlangung der ersehnten Weltgeltung endete im peinlichen Rückzug. Akribisch rekonstruiert Röhl anhand seiner Dokumentenfülle die Abläufe der Entscheidungen. Die verkorksten Motive des kaiserlichen Handelns, aber auch die devot-zustimmende Kooperation des gesellschaftspolitischen Umfelds im Reich werden dabei überdeutlich. In völliger Verkennung der realen weltpolitischen Verhältnisse blieb schließlich nur noch das Bündnis mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, an dessen Seite man in falscher Euphorie in den Krieg stolperte. Der Krieg beendete engültig die ,glorreichen Zeiten'. Am Ende stand die Flucht Wilhelms ins niederländische Exil nach Doorn. Röhl belegt, das der abgedankte Kaiser nichts gelernt hatte. Im Gegenteil: seine hanebüchenen Einschätzungen der politischen Lage sowie sein eifernder Antisemitismus ließen bereits bei Zeitgenossen die Frage aufkommen: Haben wir uns von einem Verrückten führen lassen?
Röhls Monumentalwerk über Wilhelm II. beschreibt endgültig die maßgebende Rolle des Kaisers in der Politik des Deutschen Reiches bis 1914. Sie war einerseits dem Geltungsstreben Wilhelms geschuldet, wurde andererseits aber auch durch die bereitwillige Unterwürfigkeit weiter Teile der Gesellschaft - darunter der politischen und militärischen Elite - ermöglicht. Das Deutsche Reich hatte schlichtweg den Kaiser, den es verdiente.
Eine kompakte Übersicht über den Kriegsverlauf sowie die revolutionären Umbrüche in Deutschland bietet der Band "Weltkrieg und Revolution. 1914-1918/19" in der von Manfred Görtemaker, Frank-Lothar Kroll und Sönke Neitzel herausgebenen Reihe "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert". Der übersichtliche Band, so erläutert der Autor Sönke Neitzel, konzentriert sich "auf das Geschehen an der Front im Wechselspiel mit dem außen- und innenpolitischen Kontext." Die hierfür vorgesehenen sechs Kapitel beschreiben knapp den "Weg in den Krieg", erläutern nachvollziehbar den Kriegsverlauf, skizzieren übersichtlich die "deutsche Außenpolitik zwischen Friedensinitiativen und Siegfrieden", beschreiben anschaulich die "Gesellschaft im Krieg", schildern zügig "Zusammenbruch und Revolution" und münden in einer Beschreibung des "Friedens, der keiner war."
Der übersichtlichen Abfolge der Kapitel entspricht eine gute Lesbarkeit des Textes. Der Autor bewältigt seinen Stoff souverän und anschaulich für interessierte Leser. Selbige sind nach Lektüre des Bandes auf dem aktuellen Stand der Erkenntnisse rund um den Ersten Weltkrieg. Dazu tragen auch die ergänzenden Anmerkungen bei. Wer will, kann sich über die mitgelieferten Literaturhinweise, die bemüht sind, die Schwerpunkte der Forschungsbemühungen wiederzugeben, bestimmte Themenenbereiche intensiver erarbeiten.
Kurzum: Der Band bietet eine schlüssige und übersichtliche Darstellung des Ersten Weltkriegs, die einerseits eine schnelle Übersicht zum Thema ermöglicht, andererseits durch weitergehende Hinweise, ein tieferes Einsteigen ins Thema möglich macht.
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