Die Quellen des Genies
Günter Jürgensmeier hat in dem gewichtigen Band „Shakespeare und seine Welt“ die Vorlagen für Shakespeares Werke zusammengetragen
Von Manfred Orlick
2016 ist Shakespeare-Jahr – schließlich war im April der 400. Todestag des englischen Dramatikers und Lyrikers. Zahlreiche Publikationen widmeten sich diesem Jubiläum. Nun folgt noch ein großformatiger und gewichtiger (immerhin reichlich drei Kilo) Band mit dem Titel Shakespeare und seine Welt. Beim näheren Hinsehen eigentlich etwas irreführend, denn nicht Shakespeares Leben und Werk stehen im Mittelpunkt, sondern die Originalquellen, aus denen der Dichter seine Inspirationen und Anregungen für Stücke und Verserzählungen bezogen hat. Seine Gedichte und Sonette wurden dagegen wegen des Fehlens eines Plots nicht berücksichtigt.
Über Jahrzehnte hat der Herausgeber Günter Jürgensmeier gesammelt, worauf sich William Shakespeare bezog und woraus er die Handlungen in seinen grandiosen Tragödien und Komödien schöpfte. Zunächst aber gibt er eine kompakte Einführung in Shakespeares Biografie, soweit die Fakten der Shakespeare-Forschung das hergeben. Dabei wird auch versucht, eine Antwort auf die Frage „Wie sah der Dichter wirklich aus?“ zu finden und zwar mit einem Zitat von Shakespeares Zeitgenossen Ben Jonson. Die Stücke und Verserzählungen sind dann in der mutmaßlichen Reihenfolge ihres Entstehens angeordnet – mit Ausnahme der Königsdramen, die gemeinsam behandelt werden.
Jedes Werk beginnt mit einer kurzen Einleitung gefolgt von der Aufzählung der von Shakespeare wahrscheinlich verwendeten Quellen, ehe diese dann abgedruckt werden. Einige Quellen werden jedoch nur in Auszügen widergegeben, wobei auf jene Handlungsteile verzichtet wurde, die Shakespeare nicht verwendet hat. Ergänzt werden diese Vorlagen der Shakespeare-Stücke durch zahlreiche Informationen, die Hinweise geben auf literarische Spuren, die Shakespeare aus seiner Zeit und Umwelt aufgenommen und eingebaut hat. Bei diesen Hinweisen und den Quellen selbst wird immer wieder auf Bezüge zu Leben und Werk des Dichters hingewiesen.
Zu Shakespeares Quellen zählen z.B. Chroniken, Geschichtswerke der Antike, Reisebeschreibungen, frühere Theaterstücke, italienische Novellen oder Sagen der europäischen Mythologie. Diese Spannbreite ist auch ein Hinweis, wie belesen und umfassend gebildet William Shakespeare gewesen sein muss. Einige dieser Quellen sind sicherlich bekannt – denken wir nur an die nordische Hamlet-Sage Amleth oder Arthur Brookes Verserzählung The Tragicall Historye of Romeus and Juliet. Shakespeares Liebestragödie ist auch ein Beispiel dafür, dass es meist nicht nur eine Vorlage gab, sondern dass Shakespeare mitunter auf zahlreiche Fassungen zurückgegriffen hat. Aber selbst der versierte Shakespeare-Kenner wird Neues und Überraschendes entdecken. Der Leser fragt sich, warum viele dieser früheren Texte (oft literaturhistorisch durchaus interessant und qualitätsvoll) von der Shakespeare-Fassung verdrängt wurden oder gar in der Versenkung verschwanden.
William Shakespeare war jedoch kein Plagiator, sondern ein Künstler mit eigenen Ideen und unverwechselbaren Werken. Er hat sich von diesen literarischen und historischen Stoffen zwar inspirieren lassen, strafte oder änderte aber deren Handlung, gestaltete sie komplexer, änderte die äußere Struktur und steigerte wesentlich die Dramatik. Daraus sind Werke entstanden, die heute noch zu den bedeutendsten und am meisten aufgeführten und verfilmten Bühnenstücken der Weltliteratur gehören.
Jürgensmeier hat die Quellendarstellung der einzelnen Shakespeare-Stücke durch zwei Essays London um 1600 und Theater und Bühne unterbrochen, die mit Shakespeares Zeit und der damaligen Londoner Theaterlandschaft vertraut machen. Außerdem ist der umfangreiche Band mit fast 500 historischen Abbildungen (Faksimiles, Ansichten, Stiche und Gemälde) illustriert. Ein besonderer Reiz liegt auch im zweispaltigen Druck, in unterschiedlichen Schriftgrößen sowie im edlen Leineneinband. Schließlich punktet der Anhang noch mit einem Quellenlexikon und einer Zeittafel.
Shakespeare und seine Welt versammelt für die deutsche Leserschaft erstmals alle wichtigen Quellen und Einflüsse zu Shakespeares Werken. Somit besteht die Möglichkeit, nicht nur diese besser zu erschließen, sondern auch etwas über die Arbeitsweise des Dichters zu erfahren. Insgesamt ist der opulente Band also eine reiche Informationsquelle für neue Entdeckungen in Shakespeares Welttheater.
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