Vor der Haustür beginnt die Natur
Über Paul-Philipp Hanskes und Christian Werners Wegweiser durch die urbane Pflanzenwelt „Die Blüten der Stadt“
Von Anja Beisiegel
Zugegeben, das Buch kommt, wenn man Cover und Titel betrachtet, etwas spröde daher. Von einem Wegweiser durch die „urbane Pflanzenwelt“ erwarte ich Informationen zu Straßenbegleitgrün in Zeiten des Klimawandels, zu „Psychopathen-Vorgärten“ mit Kiesschüttung und zu Waschbetontrögen mit immer gleichem Pflanzengulasch (wie ihn Günther Wieland bereits 1983 in seinem Buch Grün kaputt anprangerte). Ich stellte mich also auf eine etwas anstrengende Lektüre ein. Kritisch, vielleicht dystopisch und etwas trocken (wie eine Baumscheibe im August vielleicht).
Der Autor Paul-Philipp Hanske liefert jedoch nichts von alledem. Sein Buch Die Blüten der Stadt, ist ein großer Glücksfall der „grünen Literatur“. Völlig frei von Pessimismus und erhobenem Zeigefinger macht Hanske gemeinsam mit dem Fotografen Christian Werner eine Bestandsaufnahme dessen, was in deutschen Städten grünt und blüht. Und das ist eine ganze Menge – mehr zumindest, als wir durchschnittliche Stadtmenschen in unserem Umfeld erwarten.
Hanske und Werner leugnen selbstverständlich nicht die „verheerenden Auswirkungen unserer Zivilisation“. Aber sie sehen den Menschen dennoch in einem „existentiellen Verhältnis zur Natur“. An der Naturferne unserer Zeit (in der „Kinder mehr Marken am Logo als Bäume an ihren Blättern erkennen“) ist nicht zu zweifeln. Umso wichtiger ist es dem Autor und dem Fotografen, uns die Natur, der wir tagtäglich auf der Straße, in Gärten und Parks begegnen, mit Text und Bild ins Bewusstsein zu rücken.
Entlang des Jahreslaufs werden 69 Pflanzen porträtiert, die die meisten schon einmal gesehen haben, oft aber nicht benennen können. Weder Autor noch Fotograf sind Botaniker. Ihre Auswahl ist daher „radikal subjektiv“. Ob Bäume, Sträucher, Stauden oder sogenannte Unkräuter, jede einzelne Pflanze bekommt die volle Aufmerksamkeit der beiden Porträtisten.
Die Artikel zu den einzelnen Pflanzen sind kleine, kunstvolle feuilletonistische Essays. Sie handeln von der Biografie der jeweiligen Pflanze (schließlich haben viele einen – wenn auch meist lange zurückliegenden – Migrationshintergrund), von etwaigen berauschenden und aphrodisierenden Wirkungen, ihrer Bedeutung in der Kulturgeschichte und – natürlich –von ihrer Schönheit und ihrem Duft.
Dabei sind die Miniaturen detailliert recherchiert und warten mit profunden und stupenden Fakten auf. So erfährt man, dass die Kugellager der Sojus-Raumkapseln aus Buchsbaumholz gefertigt werden und dass Ross- und Esskastanien überhaupt nicht miteinander verwandt sind. Hanske verrät sein Rezept für Waldmeisterbowle und enthüllt die Symbolik der Erdbeere, die in der mittelalterlichen Malerei für Demut und Märtyrerblut stand.
Solch facettenreiche Bücher über Pflanzen sind bedauerlicherweise eine Seltenheit. Ich sehe Blüten der Stadt in der Tradition solch lesenswerter und längst vergriffener Bücher wie Christian Grunerts Pflanzenporträts aus dem Jahr 1948 und Gabriele Tergits Kleine Geschichte der Blumen (von 1958, 2014 unter dem Titel Der alte Garten neu aufgelegt).
Die Fotografien stehen im Kontrast zu einer Pflanzenfotografie, wie wir sie aus den unzähligen Magazinen mit „Land“ im Titel kennen. Werner zeigt die Stadtpflanze nicht im nostalgischen Idyll, sondern in ihrem profanen städtischen Umfeld. Der Geißbart wächst vor einem Maschendrahtzaun, die Rose vor einer grässlichen bunten Fassade und die Koniferenhecke bewacht – akkurat gestutzt – ein adrettes Einfamilienhaus.
Hanskes Sprache ist anschaulich und changiert hin und wieder ins Poetische. Enzyklopädisches Wissen und subjektive Betrachtungen wechseln sich ab und bilden ein hervorragend lesbares, unterhaltsames und lehrreiches Ganzes. Die Feuilletonistin Tergit und der Gärtner Grunert haben ja bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert meisterlich vorgeführt, wie begeisternd man über Alltagsgrün schreiben kann. Die Blüten der Stadt buchstabieren nun endlich (erfrischend und sehr literarisch) eine neue Variation dieses Themas.
Hanske und Werner geht es darum, „Pflanzen als das zu zeigen, was sie bei näherem Hinsehen sind: sehr vertraute und zugleich doch unendlich fremde Protagonisten eines Spektakels, in dem sich nicht weniger spiegelt als die ganze Welt.“ Dieses Vorhaben ist den beiden gelungen. Nach dem Lesen dieses Buches wird die Natur vor der Haustür auch für den überzeugtesten großstädtischen Stubenhocker bunter, duftender und aufregender sein.
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