Auf der Suche nach der verborgenen Zeit

Ein Sammelband spürt den Latenzzeiten in der Gegenwartsliteratur nach

Von Christian PalmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Palm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Uns gehört die Zeit“, heißt es an einer Stelle in dem 2014 erschienenen Roman Vor dem Fest von Saša Stanišić, der als Jugendlicher vor dem Bosnienkrieg floh und später in Deutschland Schriftsteller wurde. Der Literaturwissenschaftler Michael Ostheimer (TU Chemnitz) bezieht das plurale Personalpronomen „uns“ in diesem Zitat nicht nur auf die Romanfiguren, sondern auch auf seine Berufsgruppe, zu deren Aufgaben er das Übersetzen von „narrativ geformte[n] Zeitvorstellungen in analytisch-deskriptive Sachprosa“ zählt. Diesem Anspruch folgt der von Ostheimer und Anna-Katharina Gisbertz (Universität Mannheim) gemeinsam herausgegebene Sammelband Geschichte – Latenz – Zukunft. Das 152 Seiten umfassende Buch ist das Produkt eines gleichnamigen DFG-Workshops, der an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Juni 2016 am Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen stattfand und sich mit der Wahrnehmung von Zeit in der Gegenwartsliteratur auseinandersetzte.

Im ersten Satz seines (etwa in der Mitte des Bandes befindlichen) Aufsatzes betont Daniel Fulda zu Recht, dass ‚Latenz‘ in der dreigliedrigen Begriffsreihe des Tagungs- und Buchtitels „zweifellos der am wenigsten gebräuchliche und deshalb hervorstechende Begriff“ sei. Gerade aus diesem Grund gehen auch die beiden Herausgeber in der Einleitung zu dem Band besonders auf den Latenzbegriff ein, den sie mit Anselm Haverkamp als „Grundbegriff der Kulturwissenschaften“ einführen und in Nachfolge von Thomas Khuranas und Stefanie Diekmanns Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff (2007) als einen spezifischen „Modus des Verborgenseins und der Wirksamkeit aus dem Verborgenen“ definieren. Laut Gisbertz und Ostheimer lassen sich bei der Latenz drei Dimensionen voneinander unterscheiden. Erstens beschreibe sie ontologisch „eine potentiale Gegebenheitsweise von Formen“, die stets unsichtbar bleibe und nur über ihre manifesten Effekte, „nicht aber [über] das in Latenz Gegebene selbst“ erschließbar sei. Im räumlichen Sinne – das ist die zweite Dimension – meine Latenz „mehr als eine bloße Abwesenheit, nämlich eine hoch wirksame Absenz“, die „durch den gegenwärtigen Effekt eines vergangenen, aber in der vergangenen Gegenwart nicht registrierten Vorkommnisses“ wahrnehmbar werde. Durch diese Verzögerung wird drittens auch die zeitliche Verfasstheit von Latenz deutlich, denn der Latenz-Effekt verbindet den Herausgebern zufolge ein Ereignis in der Vergangenheit mit

einer Zukunft, die in der Zeitform des Futur II erscheint: Es wird gewesen sein. Anders als das psychische Problem der Verdrängung soll oder muss das Latente im Lauf der Zeit also nicht offenbar werden. Die zeitliche Dimension akzentuiert – das kann man daran ersehen – ein epistemologisches Problem. Zusammengenommen bedeutet latent gegeben mithin, paradox formuliert: „hier und jetzt nicht hier und nicht jetzt“.

Nach der Einleitung folgen acht Aufsätze sowie ein abschließendes Interview Gisbertz’ mit dem bereits erwähnten Schriftsteller Saša Stanišić. Ausgehend von der Frage, wie kulturelle Zeit entsteht, entwickeln Ines Detmers und Mitherausgeber Ostheimer im ersten Beitrag ihren Kernbegriff des ‚temporalen Imaginären‘, der kulturelle Zeit an „soziale und symbolische Akte des Fingierens“, also an die Einbildungskraft von Gruppen und Individuen rückkoppelt. Unter Bezug auf die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann sowie Wolfgang Iser zeigen die beiden Autoren zuerst, wie ‚Latenz‘ und ‚Emergenz‘ „die Wirkspuren des temporalen Imaginären“ sichtbar zu machen vermögen. Anschließend entwerfen sie ein „Kulturmodell der Zeit“, das Paul Ricœurs Mimesis-Modell zur Poetik der erzählten Zeit in einigen Punkten verändert und auch auf Außerliterarisches ausweitet. „Zeit“, so die These von Detmers und Ostheimer, „ist omnilatent, weil sie allenthalben herrscht, und zwar im Modus der Latenz.“ Nach diesem theoretisch-methodisch orientierten Beitrag zeigt Anne Fuchs in ihrem Aufsatz überzeugend auf, wie sich Lutz Seilers DDR-Robinsonade Kruso (2014) diesem ‚temporalen Imaginären‘ öffnet. Fuchs’ raumzeitliche Textanalyse fokussiert besonders darauf, dass Seilers Roman auf der kleinen Ostseeinsel Hiddensee eine eigenzeitliche Gegenwelt zum realexistierenden Sozialismus des Festlandes inszeniert. Durch das Engagement des Titelhelden Kruso entsteht für DDR-Aussteiger und Abtrünnige hier ein „Ort einer versteckten Freiheit bzw. inneren Emigration“, den Fuchs als „kleine Utopie“ bewusst von den „großen teleologischen Geschichtsentwürfe[n] des 19. Jahrhunderts“ abgrenzt. Mit dem Untergang der DDR und dem Mauerfall manifestiert sich der temporäre Charakter dieser Form der Utopie: „Die Ereignisse von 1989 beenden sowohl das master narrative der marxistischen Utopie als auch die micro-narrative der uchronischen Robinsonade – mit dem Abdanken des Sozialismus ist die Bedingung der Möglichkeit für die kleine Utopie zerstört.“ In einem weiteren textanalytischen Beitrag befasst sich Ines Detmers, bereits Co-Autorin des ersten Aufsatzes, mit der „Latenz als Verfahren“ in dem Roman The Gap of Time (2015) der britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson. Aus dem Beitrag geht hervor, dass und wie Winterson das Shakespeare-Drama The Winter’s Tale beim Wort nimmt und intertextuell zu einer Erzählung (tale) beziehungsweise einem Roman umschreibt. In Wintersons Text wird laut Detmers mittels einer „Poetik der Unterbrechung“ gerade das erzählt, was der Prätext über die Figuren „teils verdeckt hält oder gänzlich verschweigt“. Über „Zeit-Brüche“ (wie den Titelausdruck ‚gap of time‘), so Detmers, würden bei Winterson „Verdrängtes aus der Vergangenheit sowie verhinderte Zukünfte ans Licht“ gebracht.

Im Zentrum der drei Beiträge von Daniel Fulda, der Mitherausgeberin Gisbertz und Johannes Pause stehen deutschsprachige Generationenromane. Unter dem Titel „Weder Bloch noch Gumbrecht“ analysiert zunächst der schon eingangs zitierte Fulda Latenzen in Die Bilder meiner Mutter (2015) und zwei weiteren Texten von Stephan Wackwitz. Unter Rekurs auf die unterschiedlichen Latenzbegriffe Ernst Blochs (Latenz als utopisches ‚Noch-Nicht‘) und Hans Ulrich Gumbrechts (Latenz als Nebeneinander der Zeiten im heutigen posthistorischen Zeitregime) stellt Fulda den Autor Wackwitz als früheren „Blochianer“ dar, der mit der Zeit aber verstärkt auch „Bloch-Kritisches“ schreibe. In Anna-Katharina Gisbertz’ Aufsatz geht es – so der Titel – um „Latenzen der Gegenwart in Arno Geigers Es geht uns gut und Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Die Protagonisten beider Generationsromane seien durch eine „Verunsicherung über die eigene Zukunft“ und „einen Mangel an Latenz in Blochs Sinn“ gekennzeichnet. Während In Zeiten des abnehmenden Lichts das epische Präteritum mit dem Präsens (zur Schilderung der Erzählgegenwart) kombiniert, hebt Gisbertz in Es geht uns gut die durchgängige Verwendung des Präsens und das heterodiegetische Erzählen als Kennzeichen eines erneuerten Romanverständnisses hervor. Bei Geiger diene das Präsens aber keineswegs der aus dem modernen Roman bekannten Synchronisierung von Erleben und Erzählen. Dem Autor gehe es stattdessen darum, „die Vergangenheit einbezüglich ihrer Latenz innerhalb der Erfahrung selbst erzählbar zu machen. […] Die Geschichte zielt dann auch nicht mehr darauf zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist, sondern darauf, wie es gewesen sein könnte oder sollte.“ Im dritten Aufsatz zu Generationenromanen weist Johannes Pause anhand der Gestaltung des Vater-Sohn-Konflikts in David Wagners Meine nachtblaue Hose (2000) und Thomas von Steinaeckers Wallner beginnt zu fliegen (2007) nach, dass sich die Zeitvorstellungen in der Gegenwartsliteratur im Wandel befinden. In beiden Werken stehe die Generation der Väter „für ein überholtes Zeitverständnis, das durch sie selbst ungewollt karikiert“ werde. An die Stelle der großen Erzählungen tritt nach Ansicht von Pause mit den Söhnen „ein neues Zeitregime […], das Geschichte nicht mehr als lineare Dynamik, sondern als Prozess des stetigen Neu- und Umschreibens des Vergangenen fasst“. Kennzeichnend für den „Präsentismus“ dieser desorientierten Figuren ist laut Pause ihre „Verstrickung in mediale Systeme“, deren Strukturen geheimnisvoll latent seien.

Zwischen die drei Aufsätze zu Generationenromanen hat sich ein philosophischer verirrt, der etwas aus dem thematischen Rahmen des Bandes, der Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur, fällt und für den literaturwissenschaftlichen Leser insgesamt schwer zugänglich bleibt. Darin zeichnet der Philosophiehistoriker Johann Kreuzer das Konzept ‚Latenz‘ bei Bloch nach, der das wichtige Anliegen von Philosophie, „ihre eigene Zeit in Gedanken zu fassen“, mit dem Begriff des ‚Möglichen‘ einlöse. Mit der Titelformel „Vom Möglichen her denken“ meint Kreuzer, wie er in seiner Schlussfolgerung unter Bezug auf ein Bloch-Zitat erläutert,

genau dies: sich die Frage ‚Was erwartet die Zukunft für uns von uns?‘ bewusst zu machen und zu halten. Ohne solches Bewusstsein wird sich der […] Anspruch, die eigene Zeit in Gedanken zu erfassen – ein Anspruch, der vielleicht nicht nur der Philosophie gilt –, nicht wirklich erfüllen lassen.

Welchen Nutzen seine Überlegungen für die konkrete literaturwissenschaftliche Praxis haben, um die es in dem Sammelband geht – sein Untertitel lautet „Zur narrativen Modellierung von Zeit in der Gegenwartsliteratur“ –, bleibt Kreuzer den Lesern aber schuldig. Es hat fast den Anschein, dass der Beitrag eines Bloch-Experten in erster Linie dem Tagungsort, dem Ernst-Bloch-Zentrum, geschuldet ist – vor allem auch deshalb, weil jene literaturwissenschaftlichen Beiträge (von Detmers/Ostheimer, Fulda, Gisbertz und Pause), die sich ebenfalls auf Bloch berufen, das benötigte Hintergrundwissen selbst mitliefern.

Für den letzten und zugleich kürzesten Aufsatz des Bandes zeichnet erneut der Mitherausgeber Michael Ostheimer verantwortlich. Unter Rückgriff auf die ontologisch-räumlich-temporale Latenz-Definition aus der Einleitung hebt Ostheimer in Stanišićs Vor dem Fest zuerst „Latenz als genealogisches Phänomen“, danach „Latenz als Wirkungsmechanismus im traumatischen Prozess einer Figur“ und schließlich „Latenz als Konstruktionsprinzip des Wir-Erzählers“ heraus. Damit zeigt Ostheimer auf, dass das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Werk „nicht nur ein Zeitroman, sondern auch ein Latenz-Roman“ ist. Am Ende des Bandes kommt Stanišić selbst zu Wort. In einem „Gespräch über Zeit und Literatur“, das ein Dreivierteljahr nach dem DFG-Workshop im Rahmen der Reihe „Autoren bei Bloch“ stattfand, gewährt er Anna-Katharina Gisbertz Einblicke in seine Arbeit und Gedankenwelt als Schriftsteller. Die Fragen und Antworten betreffen einzelne Texte, aber auch allgemeinere Aspekte wie die literarische Gestaltbarkeit der heutigen Gegenwart oder das Schreiben in Deutsch als einer Fremdsprache.

Der Sammelband Geschichte – Latenz – Zukunft ist insofern innovativ, als er schon in seinem Titel einen Begriff, nämlich ‚Latenz‘, ins Zentrum stellt, der in der Literaturwissenschaft bis dato selbst ein bestenfalls ‚latentes‘ Dasein im Verborgenen gefristet hatte. Damit reagiert das Buch auf ein offensichtliches Desideratum. Vor dem Hintergrund, dass das traditionelle Zeitverständnis mit den klar voneinander getrennten Modi der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seit dem Beginn unseres elektronisch-postlinearen Netzwerkzeitalters zunehmend an Bedeutung verliert, hat sich nämlich auch die literarische Gestaltung von Zeit verändert, wodurch wiederum neue Beschreibungsmodelle erforderlich geworden sind. In verschiedenen Beiträgen wird das unter anderem aus der Philosophie Blochs übernommene Konzept ‚Latenz‘ für die Analyse und Interpretation literarischer Texte fruchtbar gemacht. In Anlehnung an Proust, dessen Poetik der ‚mémoire involontaire‘ bei Pause Erwähnung findet, könnte man sagen, dass sich die Beiträger auf die Suche nach der verborgenen Zeit in der Gegenwartsliteratur begeben – einer  Gegenwartsliteratur, die allerdings, aus welchen Gründen auch immer, unter Ausschluss von Lyrik und Drama stillschweigend auf die erzählende Literatur reduziert wird. Eine kurze Notiz in der Einleitung hätte genügt, um diese Gattungsentscheidung zu erläutern.

Neben dem leitmotivischen Begriff der ‚Latenz‘, der meist schon in den Beitragstiteln genannt wird, entsteht eine zumindest lose Verbindung zwischen einzelnen Texten des Bandes auch dadurch, dass einige Personen (Gisbertz, Ostheimer, Detmers) an mehreren Beiträgen beteiligt gewesen sind oder in ihren Aufsätzen (Fuchs, Gisbertz) auf die von Detmers/Ostheimer entwickelte Terminologie rekurrieren. Ebenso bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ein Vertreter der Gegenwartsliteratur (Stanišić) zu einem seiner Werke befragt wird, das wenige Seite zuvor noch Gegenstand der Analyse war. Da auch andere Namen wie Bloch, Gumbrecht, Kant, Aleida Assmann oder Reinhart Koselleck wiederholt auftauchen, wäre ein Personenverzeichnis wünschenswert gewesen. Der positive Gesamteindruck, den der Sammelband hinterlässt, wird durch diesen Kritikpunkt allerdings nicht geschmälert.

Titelbild

Anna-Katharina Gisbertz / Michael Ostheimer (Hg.): Geschichte – Latenz – Zukunft. Zur narrativen Modellierung von Zeit in der Gegenwartsliteratur.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2017.
152 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865255976

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