Von Irland aus die Welt erobern

Caoilinn Hughes’ phänomenales Debüt „Orchidee & Wespe“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

William Gaddis hat in seinem bahnbrechendem Roman JR einen Jungen zu einem genialen Geschäftsmann gemacht und damit unter anderem demonstriert, wie leicht Menschen manipulierbar sind und wie einfach es sein kann, sich ein vorhandenes System zu eigen zu machen. Klugheit und Schlitzohrigkeit vorausgesetzt.

Gael Foess, Caoilinn Hughes’ Protagonistin in ihrem überbordenden wilden Debüt Orchidee & Wespe ist in gewisser Weise eine Wiedergängerin oder Nachfahrin von Gaddis’ JR. Das Buch setzt ein im Jahr 2002 in Dublin, wo Gael mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Guthrie lebt. Das hochbegabte Mädchen, das seinen Klassenkameradinnen so einiges voraus hat, beginnt schon früh mit kleinen Geschäftchen und ist auch sonst anders. Sie verehrt ihre Mutter Sive, die eine viel gelobte und entsprechend viel beschäftigte Dirigentin ist und das National Symphony Orchestra Dublin leitet. Gaels Vater ist Banker, auch er hat wenig Zeit für die Kinder und auch keinen wirklichen Draht zu ihnen, was sich vor allem auf Guthries Psyche auswirkt, der nicht die Energie und das Stehvermögen seiner Schwester hat und unter epileptischen Anfällen leidet. Dann kommt das Jahr 2008, die große Finanzkrise, in deren Folge sich Gaels Vater aus dem Staub macht. Die Restfamilie Foess leidet sehr und sehr unterschiedlich: Vor allem Gaels Mutter kommt gar nicht mehr auf die Beine, verliert ihre Arbeit, sie drohen abzurutschen. Gael geht nach London zum Studium, ihre Mutter lernt einen anderen Mann mit erst unbekannter, später schillernder Vergangenheit kennen und beginnt, sich zu stabilisieren. Allein Guthrie bekommt die Kurve nicht und wird mit 17 Jahren alleinerziehender Vater von Zwillingen. Was für eine Geschichte, was für eine (dysfunktionale) Familie!

In London beginnt Gael Foess, ihre in Kindheit und Jugend bereits erprobten Tricksereien und Lügengeschichten zu professionalisieren. Stellenweise hat der äußerst frische Roman, der vor Anspielungen und Zitaten nur so strotzt, deshalb aber nie bildungsbepackt oder arrogant wirkt, den Charakter eines Romans oder Films aus dem Genre Hochstapelei. Gael, deren Mutter nach der Trennung nicht mehr dirigiert und sich vermehrt dem Komponieren widmet, schreibt Oboisten an, um ihnen die Arbeiten ihrer Mutter anzubieten. Eine großartige Idee, die von Caoilinn Hughes wunderbar umgesetzt wird. Eine weitere Kostprobe von Gaels Chuzpe und Unverfrorenheit ist ein Bewerbungs- bzw. Vorstellungsgespräch an der London Business School, zu dem sie scheinbar unvorbereitet und zu früh erschienen ist. Dazu befragt, antwortet Gael: „Ich nutze diese halbe Stunde immer für Kundenmanagement. Es ist Freitag, vierzehn Uhr, Moskau ist uns drei Stunden voraus – manche E-Mails müssen vor dem Start ins Wochenende gelesen werden, andere erst danach. Daher die Risikominderung. Meiner Meinung nach sind strategische Expertise und Priorisierung ein und dasselbe.“

Nach einem Besuch zuhause in Dublin, wo sie feststellen muss, dass sowohl ihre Mutter, als auch ihr Bruder nicht aus ihrem Tief kommen, fasst sie einen verwegenen Plan. Sie fliegt per Business Class nach New York City, im Gepäck fünf auf alte Schulbänke gemalte Bilder ihres Bruders, abstrakte Farbkompositionen, die seine unterschiedlichen gesundheitlichen und psychischen Zustände widerspiegeln. Caoilinn Hughes macht aus dem Flug und einer Begegnung in der Business Class erneut einen kleinen funkelnden literarischen Edelstein, an dessen Ende die notorische Lügnerin einen Packen Geld hat, mit dem sie sich im Plaza Hotel einmietet, um von dort aus ihren Plan, Guthries Bilder zu verkaufen und ihn somit finanziell zu retten, zu starten. Doch bis dahin geschehen noch viele dramatische Dinge: Gael wird sich der gerade – es ist Herbst 2011 – formierenden Occupy-Bewegung im New Yorker Zuccotti Park anschließen (möglicherweise auch eine Abwehrgeste gegen ihren mittlerweile in New York arbeitenden Vater), sie wird ihre Freundin Harper aus London wiedertreffen, im Gefängnis landen und gerade noch rechtzeitig zur Vernissage der Ausstellung von Guthries Bildern kommen.

Orchidee & Wespe ist ein Roman, der an den richtigen Stellen ordentlich Tempo aufnimmt und viel Spannung und Dynamik entfaltet. Den Titel des Buches hat die 1985 geborene Autorin den Werken von Gilles Deleuze und Félix Guattari entnommen, die in ihren Schriften (u.a. Rhizom und Tausend Plateaus) das Baum-Modell als Beschreibungsmöglichkeit für Hierarchien in Gesellschaft, Politik, Wissenschaft etc. durch das Modell des Rhizoms ersetzen, einen Begriff aus der Botanik – so heißt es dort: „Seid der rosarote Panther, und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian.“ Und Caoilinn Hughes’ Roman beginnt so: „Es ist unser Recht, Jungfrauen zu sein, sooft wir wollen, sagte Gael zu den Mädchen, die sie umstanden wie Blütenblätter ein Pollenpaket.“

Orchidee & Wespe ist ein beeindruckendes sprachmächtiges Buch, ein herausragendes Debüt mit einer Heldin, die lange im Gedächtnis bleibt. Der Steidl Verlag beweist erneut ein gutes Gespür für ungewöhnliche literarische Texte, die Gestaltung ist famos, doch leider weist der Roman viele kleinere Schreibfehler auf.

Titelbild

Caoilinn Hughes: Orchidee & Wespe.
Übersetzt aus dem Englischen von Sarah Hickey.
Steidl Verlag, Göttingen 2019.
415 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783958296466

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