Das Gesicht als Spiegel der Seele
Jonathan Cole über das Gesicht und seine Bedeutung für den Menschen
Von Sabine Klomfaß
Jonathan Cole beschäftigt sich in seinem Buch "Über das Gesicht" mit der Frage, welche Bedeutung das Gesicht für den Menschen haben kann. In einer gut lesbaren Mischung aus Fallbeispielen, wissenschaftlichen Hintergrundinformationen und Rückgriffen auf Vordenker wie Merleau-Ponty, Levinas, Wittgenstein u.a. versucht er die These zu bestätigen, dass "Wahrnehmung" und "Wahrgenommenes" unmittelbar miteinander verknüpft sind, während das Gesicht primär als eine Art Umschlagplatz zwischen diesem Innen und Außen fungiert. Cole behauptet, dass "wir durch Nachahmung befähigt sind, die Gefühle anderer nachzuvollziehen". Diese Gefühle verkörperten sich in der Mimik, während Wahrnehmung, Sinnerkenntnis und Verstehen in eins verschmelzten.
Um der Tragweite dieser These nachzuspüren, orientiert sich Cole an zwei Fragen: Welche Probleme wird jemand haben, der oder die zu keinerlei Gesichtsausdruck fähig ist? Und welche Probleme wird jemand haben, der oder die keinerlei Gesichtsausdrücke erkennen kann?
Diese Fragen können nicht aus dem Stegreif beantwortet werden, denn Sehende sind z. B. genauso wenig fähig, sich selbst blind zu denken, wie Blinde fähig sind, sich Farben vorzustellen. Interessant ist jedoch die Geschichte von spät erblindeten Menschen: Diese wissen zwar erst noch, wie etwas aussieht und was Bilder überhaupt sind, doch geht diese Fähigkeit meist mit der Zeit verloren. So spricht ein spät erblindeter Mann davon, dass er sich leichter an Schulfreunde bildhaft erinnern kann, mit denen er schon jahrelang keinen Kontakt mehr hat, als die Menschen, die ihn täglich umgeben, mit einem Bildettikett zu versehen, das sich nicht mehr bestätigen kann. Daher weiß der blinde Mann genau, wovon er redet, wenn er von seiner Frau spricht, obwohl er nicht mehr weiß, wie ein Photo von ihr aussehen würde, weil ein bloßes Bild für ihn keinen Sinn mehr ergibt.
Cole beschreibt weiterhin, was passiert, wenn die Mimik (z.B. bei Parkinsonkranken) langsam verschwindet. So wird oft vom fehlenden Mienenspiel auf den Geisteszustand des Betroffenen geschlossen: ein starres Gesicht gilt als beschränkt und langweilig. Normalerweise wird nämlich über das Wahrnehmen, z. B. das Lächeln, direkt der Sinn "der Mensch ist glücklich" erfaßt. Man konstruiert also eine Bedeutung "über das Sichtbare hinaus."
Aus diesem Grunde kommt dem Blick eine erhebliche Bedeutung als Spiegel der Seele zu. So erkennen manche Menschen unsere Stimmung, obwohl sie uns vielleicht selbst kaum bewußt war. Darüber hinaus spiegeln sich die eigenen Gefühle noch einmal im Gesicht derjenigen, die uns anschauen und ihrerseits mit bestimmten Blicken auf uns reagieren. Es lässt sich also durch Spiegelung von dem Blick des anderen zurück auf sich selbst schließen. In diesem Sinne ist die folgende von Cole zitierte Bemerkung eines jungen Mannes mit Asperger-Syndrom zu verstehen: "In dem kurzen Augenblick, wo man jemanden anschaut, fällt man ein Urteil über sich selbst." Dieses Urteil übernehmen wir von dem anderem Menschen, dem wir diese Kompetenz vor allem deshalb zuschreiben müssen, weil der andere unser Gesicht sehen kann, während wir uns selbst nie in die Augen schauen können.
Das Vermögen, das eigene Mienenspiel willentlich zu verändern, ist demnach von großer Bedeutung für den Menschen: Dies erst ermöglicht, sich selbst hinter sich zu verbergen, sich zu verstellen - die Geburt der Lüge.
Dies alles soll also gut bedacht sein, bevor man teilnimmt am Spiel der Gesichter. Der Reiz des Blickens und Erblickt-werdens liegt darin, dass man genau weiß, worum es geht, sich dessen aber trotzdem niemals sicher sein kann, weil der Andere immer irgendwie fremd bleiben muss: "Wenn es bei Beziehungen von Angesicht zu Angesicht um zwischenmenschliche Gefühle geht, stellt jedes äußere Gesicht, jedes andere Gesicht Anforderungen an mich. Es fordert mich zu seiner Anerkennung auf, denn was ich mir nicht einverleiben kann, muss ich respektieren."
Interessant ist auch die Bemerkung Coles, dass sich Erwachsene nie länger als ein paar Sekunden in die Augen blicken, außer, wenn sie kämpfen oder miteinander schlafen wollen.