Ein Sieg sozusagen
Über Peter Kurzecks akustische Erzählung „Da fährt mein Zug“
Von Christian Riedel
Ein Mann fährt mit dem Nachtzug von Straßburg nach Avignon. Er fährt die Strecke öfter und einmal geschieht ihm auf der Reise ein Missgeschick: Als er sein Gepäck bereits im Zug verstaut hat, tritt er in dem Glauben, der Zug fahre erst in ein paar Minuten ab, noch einmal auf den Bahnsteig hinaus. Plötzlich fährt der Zug ab, mitsamt dem Gepäck. Eine nächtliche Odyssee folgt, auf der der Mann freundlichen und weniger freundlichen Eisenbahnern, einem stillen Taxifahrer und dem Portier des Hotels Bristol begegnet. Am Ende hat er seine Sachen wieder, er ist ihnen mit dem Taxi hinterhergefahren, „ein Sieg sozusagen, auch wenn es sehr teuer ist.“
Was für ein Glück für den Hörer der jüngst erschienenen CD „Da fährt mein Zug“, dass der Mann auf dem Bahnsteig, dem diese Episode in den 1990er-Jahren widerfahren ist, nicht irgendwer ist, sondern eben Peter Kurzeck, der etwas kann, was nur große Autoren können: Aus einem Nichts an äußerer Handlung große Erzählungen zu formen.
Mit dem Hörbuch setzt der Berliner Supposé-Verlag jene vielgelobte Reihe an akustischen Erzählungen fort, die nicht wie traditionelle Hörbücher die Umsetzung eines bereits vorher vorliegenden Textes darstellen, sondern auf denen der Autor scheinbar frei erzählt. Das Prinzip gleicht Kurzecks 2007 erschienener Vierfach-CD „Ein Sommer der bleibt“, auf welcher er wie in vielen seiner Romane die Welt seiner Kindheit im oberhessischen Dorf Staufenberg erzählt. Oder auch Herta Müllers letztjähriger Erzählung „Die Nacht ist aus Tinte gemacht“ über ihre Kindheit im Banat. Die optische Aufmachung von „Da fährt mein Zug“ ist im Vergleich zu diesen beiden Produktionen deutlich schlichter gehalten, jedoch – und das ist Supposé-typisch – ebenso stilvoll wie gelungen.
Verglichen mit Kurzecks Romanen wie etwa „Das schwarze Buch“, „Kein Frühling“ oder der seit 1997 erscheinenden und bisher in vier Bänden vorliegenden großen autobiografischen Chronik, ist „Da fährt mein Zug“ sicherlich ein Seitenstück des Werkes, in dem jedoch der ganze Kurzeck-Kosmos steckt: Literatur als Medium einer obsessiv betriebenen Erinnerung an die eigene Vergangenheit. Ein gleichermaßen detailversessen-realistischer wie magisch-märchenhafter Blick auf die Welt, das registrierende Gehen durch die Straßen einer Stadt, ein Blick für am Rande stehende Menschen, für die Schwere von Abschieden, Rückblicke auf die Welt der Kindheit, ein liebevoller Blick auf Gegenstände, die in einer eigenen Ordnung angeordnet sein müssen und das Ausmalen von alternativen potentiellen Zukünften. All das ist auf engem Raum enthalten – als Einstieg in das Werk von Kurzeck sei das Hörbuch daher empfohlen.
Mit Blick auf das 2007 erschienene Hörbuch „Ein Sommer der bleibt“ wurde von der Kritik immer wieder das freie, improvisierende Erzählen Kurzecks hervorgehoben und sicherlich ist das ein zentrales Moment dieser Hörbücher. Dass sich hier aber Elemente der Improvisation mit Elementen genauer Durchformung verbinden, wird gern übersehen. Doch gerade ein Vergleich der beiden Hörbücher macht dies deutlich: Während der Autor in „Ein Sommer der bleibt“ über die in den Romanen bereits beschriebene Welt der Kindheit souverän modulierend frei verfügte, so stellt das Reiseerlebnis „Da fährt mein Zug“ eine genau kalkulierte ‚unerhörte Begebenheit‘ dar: Mit retardierenden Momenten, mit wieder aufgegriffenen Erzählfäden, mit einem literarischen Typisierungen folgenden Figurenpersonal. Und einer genau in die Mitte der Erzählung gesetzten, auf den Titel verweisenden Klimax, einer minutiös geschilderten Dehnung der Zeit, jenem geronnenen und aufgefächerten Moment, in dem eben jene wenigen Sekunden geschildert werden, in denen sich das Verpassen des Zuges auf dem Bahnsteig des nächtlich-winterlichen Straßburg abspielt und in denen sich die Wahrnehmungen des Erzählers überschlagen. Das Ausfahren des Zuges wird so auf über fünf Erzählminuten gedehnt. Wer bei einer solch artifiziellen Erzählanlage glaubt, hier sei einem freien Erzähler mal für eine Stunde das Mikro untergejubelt worden, der verkennt, dass es bei aller Improvisationskraft und Modulationsfähigkeit des Erzählers Kurzeck die andere, ebenso zentrale Seite der genauen literarischen Durchformung des Hörwerkes gibt. Wohl kaum etwas in der Kunst erfordert ein so genaues Kalkül wie die scheinbare Unmittelbar- und Beiläufigkeit.
Nicht erst seit Franz Kafkas Parabeln weiß man, dass man auf dem Weg zum Bahnhof die Zeit aus den Augen verlieren kann. Und knapp zehn Minuten vor Ende der einstündigen Erzählung spricht Kurzeck wie an so vielen Stellen seines Werkes über die Zeit: „Mir ist das zu der Zeit öfter passiert, dass ich genau wusste, jetzt hast du noch eine Stunde Zeit, und dann schau ich auf die Uhr und bin noch weit weg vom Bahnhof und es sind nur noch 10 Minuten.“ Als Hörer geht es einem ebenso: Es bleiben einem nur noch zehn Minuten und man merkt kaum, dass man schon fast eine Stunde gelauscht hat, und hofft, die Erzählung möge länger dauern. Denn Kurzeck schafft das, was er selbst den Hölderlin-Versen zuschreibt, die sein Verleger ihm in Straßburg am Telefon vorliest: „Und dann las er nur ein paar Hölderlin-Zeilen, die aber so gut waren, dass man merkt, die Welt fängt an zu zittern.“
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