Fiktionale Multivision von Lebensgeschichte
Ein internationaler Sammelband erhellt, wie Barbara Honigmann im Schreiben das Leben verändert
Von Michael Braun
Das Schreiben von Barbara Honigmann ist seit ihrem Prosadebüt 1986 vornehmlich unter autobiografischen Vorzeichen wahrgenommen worden. Und das nicht in dem naiv-mimetischen Sinne, dass die Kunst das Leben spiegelt, sondern durchaus differenziert. So wurde das Werk der 1949 in Ostberlin geborenen und 1984 nach Straßburg ausgereisten Autorin zu einem besonderen Studienfall der ‚Zweiten Generation‘ der deutsch-jüdischen Literatur. Gestützt werden solche Interpretationen gerne durch eifrig zitierte Selbstkommentare der Autorin (wie dem von ihrem „dreifachen Todessprung ohne Netz“).
Doch das ist einseitig, wenn nicht sogar irreführend. Der vorliegende Sammelband, hervorgegangen aus einer internationalen Konferenz in Jerusalem, überspringt die Zäune der autobiografischen Lektüre und erobert ein Feld höchst anregender kulturwissenschaftlicher, diskursanalytischer und religionsgeschichtlicher Lektüren. Barbara Honigmann, so die Quintessenz, überführe den immer wiederkehrenden Stoff der familiären und kollektiv-jüdischen Geschichte in fiktionale Kapitel aus ihrem Leben. Eine treffende Formel für diesen „metapoetischen Mechanismus“ hat die Herausgeberin Yfaat Weiss gefunden: „Im Schreiben das Leben verändern“.
Damit beruft sie sich auf ein Zitat aus Honigmanns Zürcher Poetikvorlesung, das man mit Wolfgang Braungart zu den „schönen Stellen“ zählen kann, die Literatur mit dem Leben verknüpfen und mit denen das Verstehen beginnt. Das Zitat lautet: „Ich möchte gerne in meiner Eigenart des Schreibens und nicht in meiner Eigenart des Lebens wahrgenommen werden. […] Alle Menschen haben eigenartige Lebensgeschichten. Es kommt aber darauf an, sie im Schreiben zu verändern.“ Yfaat Weiss macht am Beispiel des Briefromans „Alles, alles Liebe!“ (2000) klar, dass mit dieser Aussage der autobiografische Exklusivitätsanspruch minimiert und der Blick auf die Poetik des Erzählens der eigenen Lebensgeschichte gelenkt wird. Wenn Barbara Honigmann in der Eigenart ihres Schreibens, nicht ihres Lebens, wahrgenommen werden möchte, dann ist ihr Werk eine fiktionale Multiversion von Lebensgeschichte.
In der Gesamtschau auf die Beiträge der israelischen (Yfaat Weiss, Karin Neuburger, Galili Shahar), deutschen (Bettina Bannasch, Natasha Gordinsky, Michael Hasenclever, Susanne Zepp), kanadischen (Yannif Feller, Thomas Nolden) und Stanforder Germanisten (Lilla Balint, Amir Eshel, Idan Gillo) kann man die reiche Ausbeute an neuen Einsichten nur bewundern. Um nur einige Stichworte zu nennen: Abstraktion und Verallgemeinerung, Ernüchterung und sensationslose Enthüllung, subversive Rettung des Alltäglichen, Rekurse auf jüdische Denkfiguren (Makom als Ort, Galut als Exil, Jetzira als Schöpfung), „Verlust der ‚Romantik der Weltgeschichte‘“, Exterritorialisierung der Muttersprache und schließlich deutsch-jüdische, französisch-jüdische, europäische, arabisch-jüdische und globale Kontexte, all das wird ebenso subtil wie nachvollziehbar am Romanwerk, an den Essays (auch am zeichnerischen Werk) herausgearbeitet
So stellt Idan Gillo Barbara Honigmann in die Tradition des modernen Wiedergeburts- und Bekehrungsdiskurses. Das Jom Kippur-Erlebnis der Autorin in einer Ostberliner Synagoge liefere den Entwurf zu einer jüdischen Denkfigur, die im Zeichen eines nicht mehr weltfrommen, sondern modernen Subjekts stehe, das sich aus der territorialen Nahdistanz im französischsprachigen Straßburg zum Schreiben in deutscher Sprache ermächtige. Honigmann zeige, „wie sehr Enthusiasmus, Hingabe und Selbstverleugnung […] auch Merkmale der modernen ‚Entwicklung‘ der Juden in Deutschland sind“. Nicht als Jüdin also begann Barbara Honigmann zu schreiben, sondern im Schreiben konstituierte sich das Judentum, ohne das sich die deutsche Kultur nicht „von neuem […] erfinden“ könne.
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