Main Logo
LITERRA - Die Welt der Literatur
Home Autoren und ihre Werke Übersicht
Neu hinzugefügt
Serien / Reihen
Genres
Leseproben
Bücher suchen
Signierte Bücher Künstler und ihre Werke Hörbücher / Hörspiele Neuerscheinungen Vorschau Musik Filme Kurzgeschichten Magazine Verlage Specials Rezensionen Interviews Kolumnen Artikel Partner Das Team
PDF
Startseite > Bücher > Fantasy > Selbstverlegt > Angela Mackert > FEENSCHWUR > Leseproben > Leseprobe 2

Leseprobe 2

ANTIQUERRA-SAGA
FEENSCHWUR

Angela Mackert
Roman / Fantasy

Selbstverlegt

ANTIQUERRA-SAGA: Band 2
Taschenbuch, 200 Seiten

Feb. 2016
Bestellen: Jetzt bestellen / auch als eBook erhältlich

Drei Wochen zuvor ...
 
Aus der Ferne erklangen die klagenden Töne einer Mundharmonika. Alena blieb stehen und lauschte, aber nicht lange, dann verfiel sie wieder in Laufschritt. Sie durfte den Raben nicht aus den Augen verlieren, musste ihm folgen, wenn sie auch nicht wusste, wohin. In ihrem Inneren pochte eine drängende Stimme: weiter ... weiter ... weiter .... Ihr keuchender Atem nahm dieses Gefühl rhythmisch auf, hielt ihre Beine in Bewegung. Während sie rannte, legte Alena eine Hand auf die Brust, um den kräftigen Schlag ihres Herzens zu spüren. Es half ihr, diese seltsame Nacht zu ertragen, die immer gespenstischer anmutete. Außer ihrem eigenen Atem hörte sie kein Geräusch. Nicht einmal ihre Schritte verursach-ten einen Laut. Aber der Geruch des faulendem Wasser in den Tümpeln am Rande des Wegs wurde stärker, gerade so, als ob es sie betäuben wollte.
Ihr werdet mich nicht aufhalten, hört ihr!
Beherzt tauchte Alena in die Nebelfetzen, welche im Mondlicht wie Spinnweben schimmerten. Sie hatte ein Ziel! Ihr war nicht klar welches Ziel, aber es lag wohl irgendwo da vorne hinter den Zwillingsbergen. Der Rabe flog darauf zu.
Plötzlich nahm die Musik der Mundharmonika einen völlig anderen Klang an. Irritiert blieb Alena stehen. Etwas stimmte nicht mehr! War das noch dieselbe Umgebung? Und wo war der Rabe? Sie sah ihn nicht! Wie sollte sie jetzt hier heraus finden? Panik rollte in zitternden Schüben durch ihren Körper, trieb ihr den Schweiß aus den Poren und ihren Herzschlag zur Höchstleistung an. Das Licht veränderte sich, wurde heller, konturenlos ― und dann ...
»Verdammt!«, schimpfte Alena, tastete mit einer Hand zum Radiowecker und schaltete ihn aus. Mit noch immer klopfen-dem Herzen richtete sie sich auf, blieb ein paar Sekunden lang reglos sitzen und starrte auf das altmodische Muster ihres zerwühlten Bettlakens. Dann ließ sie sich unvermittelt wieder in die Kissen zurückfallen.
Die Morgensonne zauberte tanzende Lichtreflexe an die Zimmerdecke. Alena beobachtete die goldenen Flecke, ohne sie wirklich zu sehen. Zu deutlich spürte sie noch die Nach-wirkung der nächtlichen Bilder. Alena griff nach einem Zipfel der Bettdecke und presste ihn auf ihre feuchte Stirn, fing an zu grübeln. Der Traum hatte etwas zu bedeuten, zumal sie ihn nicht zum ersten Mal träumte. Aber was? Wollte sie vor etwas davonlaufen? Ah, das ging doch gar nicht! Das Leben ge-staltete sich überall so schwierig wie hier ... Der Vogel! ... Das konnte ein Bild für seelischen Kummer sein und ja, den hatte sie seit dem Tod ihrer Eltern. Aber deshalb gleich eine Serie von Albträumen?
»Schluss jetzt«, sagte sie laut, um die Reste ihrer nächtlichen Hetze von sich abzuschütteln. Heute war schließlich ein be-sonderer Tag, und den wollte sie sich nicht verderben lassen.
Alena strampelte sich aus dem Bettlaken frei und stand auf. Gähnend tappte sie durch das Zimmer, um ins Bad zu gehen. Dabei fiel ihr Blick auf den Kalender neben der Tür. Den einundzwanzigsten Juni hatte sie rot eingekreist und mit Blümchen verziert. Dieser Tag war heute. Alena blieb stehen und strich lächelnd mit dem Finger über das Datum. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie marschierte aus dem Zimmer und direkt gegenüber hinein ins Bad. Dort stützte sie sich erst einmal auf dem Waschbecken ab, als wenn sie der Stand-festigkeit ihrer Beine zu dieser frühen Stunde noch nicht recht trauen würde. Eine Weile betrachtete sie ihr Gesicht im Spie-gel. Es sah so verschlafen aus wie jeden Morgen. Das bis weit über die Schultern reichende, flachsblonde Haar hing in kleinen Löckchen ein wenig wirr um ihren Kopf. Einige eigenwillige, gekringelte Strähnen fielen ihr über die Augen und erschwerten eine klare Sicht. Alena strich sie langsam nach hinten. Wie so oft, wenn sie ihr schmales, an hell schimmerndes Porzellan erinnerndes Gesicht betrachtete, ärgerte sie sich wieder, dass es trotz der vielen Sonne kein bisschen Farbe annehmen wollte. Sie sah nicht krank aus, im Gegenteil. Aber mit dieser klaren, hellen Haut fiel sie auf. Alle anderen, die sie kannte, waren von der Sonne entweder rot oder braun gebrannt. Nur sie selbst sah Sommers wie Winters aus, als ob sie in den Schminktopf einer Geisha gefallen wäre. Unwillkürlich zog sie ihrem Spiegelbild eine Schnute. Dann rieb sie sich heftig die Wangen, bis sie sich röteten. Es kam ihr in den Sinn, wie die Eltern sie früher oft liebevoll »Feen-herzchen« genannt hatten, wenn sie sich über ihren unge-wöhnlich hellen Teint beklagte. Die Erinnerung daran ver-söhnte sie wieder ein wenig mit ihrem Spiegelbild. Sie lächelte, weil sie jetzt die Stimmen der beiden zu hören vermeinte: »Herzlichen Glückwunsch zum achtzehnten Geburtstag, Lie-bes.«
Es war jedoch ihre eigene melodische Stimme, die flüsternd erklang. Die Stimmen der Eltern würde sie nie mehr hören. Ein trauriger Schatten legte sich über Alenas Augen, die wie die unendliche Tiefe der smaragdgrünen See wirkten. Doch dann riss sie sich von ihrem Spiegelbild los. Es wurde Zeit, dass sie ihr Nachthemd mit der Straßenkleidung tauschte. Bald kam ihre Nachbarin Rosa Laun herüber, um zu gratulieren. Alena mochte Rosa sehr, empfand sie als der Familie zuge-hörig, immer schon. Doch jetzt, nach dem Unfalltod ihrer Eltern vor einem dreiviertel Jahr, noch mehr als zuvor.
Wie üblich duschte Alena in Rekordzeit, denn Wasser war kostbar in diesen Tagen und durfte nicht vergeudet werden. Zur Feier des Tages zog sie ihr Lieblingskleid mit den kurzen Ärmeln und dem weiten Tellerrock an. Es betonte ihre schlanke Figur, und sie empfand es so bequem und luftig, dass es ihr nicht schwer fiel, dafür auf ihre kurze Jeans zu verzichten. Beschwingt lief sie danach die hölzerne Treppe hinunter ins Erdgeschoss, das aus einem einzigen großen Raum bestand. Links schmiegte sich die kleine Küchenzeile in eine Nische. Geradeaus nach vorne gelangte man direkt zur Eingangstür mit dem eigenartigen Schloss, dessen passender Schlüssel zu jeder Tages- und Nachtzeit an einer Kette um Alenas Hals hing. Hinter der Treppe befand sich der Ausgang zum Garten.
Obwohl die Sonne gerade erst aufging, wurde der Raum von grellem Licht durchflutet. Die Hitze des Tages kündigte sich bereits wieder an. Alena sah sich um und beschloss, sich nach dem Frühstück zuallererst um die Pflanzen zu küm-mern.
Der Raum hatte nur eine spärliche Möblierung im Verhältnis zu seiner Größe. Es gab außer der Küchenzeile nur einen Esstisch mit sechs Stühlen, eine kleine Couchecke und einen Vitrinenschrank. Doch überall standen auf Stühlen, Hockern, Tischchen oder direkt auf dem Steinboden Töpfe mit Pflanzen. Viele Topfgewächse hingen sogar an Haken von der Decke. Das Zimmer wirkte daher weniger wie ein Wohnraum, sondern eher wie das undurchdringliche Dickicht eines Urwalds. Es wuchsen jedoch keine Blumen, mit denen Alena das Zimmer verschönern wollte. Sie zog hier Tomaten, Paprika, Gurken und viele weitere Gemüse- und Salat-pflanzen, von denen sie sich ernährte. Jeder machte das so, seit vor Jahren auch in Deutschland die Versorgung infolge von anhaltenden Krisen und ständig wiederkehrenden Natur-katastrophen aufgrund des Klimawandels zusammengebro-chen war. Die Lebensmittel wurden allerorts rationiert. Es gab immer weniger zu kaufen und wenn, dann zu horrenden Preisen. Wer die letzten drei Jahre überstanden hatte, musste auf Selbstversorgung setzen, und Alena nutzte dafür jedes Plätzchen. Sogar um die Couchecke herum hatte sie Töpfe mit Kürbissen gepflanzt, die an Stäben entlang bis zur Zimmer-decke rankten und sich dort festgetackert ausbreiteten. Zwei-mal in der Woche ging sie mit Fön und Pinsel bewaffnet durch ihr Pflanzenreich, um für die Bestäubung der Blüten zu sor-gen. Bis jetzt hatte sich die Arbeit gelohnt, und sie konnte mit einem verhältnismäßig reichen Erntevorrat für den Winter rechnen.
Natürlich nutzte Alena auch den kleinen Garten für den Anbau von Obst und Gemüse, zumindest versuchte sie es. Der Ertrag blieb jedoch oft aus, trotz Hitzeschirmen und Schutzvlies für die Pflanzen. Es gab keine Bienen mehr, die für die Bestäubung sorgten. Das Gemüse wurde schon im Jungstadium von der Sonne verbrannt, und wenn es trotzdem noch wuchs, riss der Sturm es aus der Erde oder Regen und Hagel ersäuften es. Es gab aggressive und giftige Schädlinge, die ihr die geringe Ernte streitig machten. Die Vögel hatten auch Hunger und stibitzten bevorzugt die wenigen, mühsam durch Handbestäubung herangereiften Beeren. Doch wenigs-tens die Kartoffelernte schien sicher. Die ertragreichen Pflan-zen wuchsen rundum geschützt in den großen Fässern im Kel-ler ― eine unverfälschte Sorte, die ihr Vater von irgendwoher einmal mitgebracht hatte, vermutlich von einem der aufständi-schen Bio-Gärtner, die gegen die Saatgut-Industrie gekämpft und doch verloren hatten, weil ihre Sorten von deren gen-manipulierten Pflanzen infiziert worden waren. Alena seufzte. Jetzt durften die patentierten Industriepflanzen nicht mehr angebaut werden, weil ihre Gifte den Boden verseucht und wichtige Insekten getötet hatten. Aber es war zu spät, und das mörderischen Klima tat ein übriges, dass draußen nur noch wenig gedieh, das die Menschen ernähren konnte.
Alena arbeitete hart um ihr tägliches Brot, aber sie verlor nicht den Mut, wie so viele aus der Stadt. Sie liebte ihr Haus, vor allem weil es glückliche Erinnerungen barg. Es stand als letztes Gebäude von älteren, aneinandergepappten Reihen-häusern auf der linken Seite der Wilhelmstraße. Mit seinem bröckelnden weißen Anstrich und den kleinen Fenstern sah es ein wenig verschlafen aus. Die in der Sonne blinkende Solaranlage auf dem Dach stand zu diesem Eindruck in krassem Widerspruch, doch Alena hatte sich längst daran gewöhnt. Ein rosenumrankter Torbogen, der allerdings mehr vertrocknete, nackte Zweige als Blüten aufwies, führte durch einen winzigen, an eine Wüste erinnernden Vorgarten mit essbaren Agavensorten, bis zum Eingang mit dem großen Holzschild, auf dem die Hausnummer 49 prangte. Darunter hatte Alenas Vater einen weiteren Holzscheit gesetzt, auf dem »Feenhäusle« zu lesen stand. »Das passt zu uns«, hatte er damals gesagt.
Das Haus neben dem Feenhäusle, die Nummer 47, gehörte Rosa, der besten und ältesten Freundin ihrer Mutter. Es sah nicht viel anders aus, nur hatte es keinen Torbogen, sondern eine einfache, jetzt bereits verbrannt wirkende Buchsbaum-einfassung als Abschluss des Vorgartens und einen offenen Zuweg zur Eingangstür. Statt Agaven wuchsen bei ihr wider-standsfähige Bananenstauden, deren Früchte jedoch kurz vor der Reife immer aus ungeklärten Gründen verschwanden. Alenas Vater hatte auch Rosas Haus einen Namen gegeben: Schmetterlingshain. Alena fand es passend.
Das Teewasser, das Alena aufgesetzt hatte, gab blubbernde Geräusche von sich. Sie schaltete den Herd ab und mar-schierte mit ihrer rot-weiß gepunkteten, bauchigen Teekanne zu einer der Fensterbänke. Ein paar Zweige Pfefferminze und Melisse wanderten in das Gefäß und bald erfüllte der würzige Duft des frisch gebrühten Tees den Raum. Kaum stand alles auf dem Frühstückstisch, da hörte Alena draußen Schritte. Schnell ging sie zur Tür, und als sie öffnete, schaute sie in das strahlende Gesicht von Rosa, einer lebhaften Frau Mitte Dreißig.
Rosa sah Alena in gewisser Weise ähnlich und wer die bei-den nicht kannte, hätte vermuten können, dass sie verwandt waren. Es lag vor allem an der Form ihrer Ohren, die eher ein bisschen spitz statt rund wirkten, aber auch an ihrem Gang. Rosa schritt stets aufrecht, fast schwebend, wie Alena. Ihr Haar wuchs dicht und glänzend, doch während die langen Locken der Jüngeren wie gebürsteter Flachs leicht silbrig schimmerten, erinnerte Rosas Haar eher an die Farbe eines polierten Kupferkessels. Sie trug es kurz geschnitten, und es lag in sanften Wellen um ihren schmalen Kopf. Ihre Augen strahlten in einem dunklen Braun. Ihre Haut schimmerte ungewöhnlich hell, was Alena allerdings vehement bestritt, weil sie es nicht wahrhaben wollte. Wenn Rosa ihre eigene Haut zum Vergleich heranzog, um die Vorzüge heller Haut zu preisen, dann presste Alena regelmäßig ihren Braunfilter vor die Augen. Es blieb das einzige Thema, bei dem die beiden Frauen zu keiner Einigung kamen.
Rosas schmalgliedrige Hände, denen man nicht ansah, dass sie vor keiner Schmutzarbeit zurückscheuten, hielten jetzt einen kleinen Kuchen, in dessen Mitte eine Kerze montiert war. Den hob sie Alena entgegen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Liebes, und willkommen in der Erwachse-nenwelt. Ab heute kann dir niemand mehr vorschreiben, was du zu tun und zu lassen hast ... nicht einmal ich.«
»Danke, Rosa ... was für ein hübscher Kuchen, und wie gut der riecht!« Alena bewunderte den einfachen Dinkelkuchen, der durch die Verzierung mit essbaren Blüten und Blättern ein festliches Gewand bekommen hatte. »Komm, der Tee ist schon fertig«, sagte sie dann und zog Rosa ins Haus.
Während sie gemeinsam den Geburtstagskuchen frühstück-ten, erzählte Alena, was sie für heute geplant hatte. Von ihrem seltsamen Traum sagte sie nichts. Sie wusste, dass Rosa ihn sehr ernst genommen hätte, vor allem da er wiederholt aufgetreten war, und sie wollte sie nicht beunruhigen. Für ausführliche Gespräche hatten sie jetzt sowieso nicht viel Zeit. Vielleicht ergab sich heute Abend eine Gelegenheit. Rosa bedauerte es zwar, dass sie nicht lange bleiben konnte, aber die Pflicht ging eben vor. Sie wollte zum Eberthof, der am Rande der Stadt neben der alten Bundesstraße lag und zu dem die Wiesen und Felder gehörten, die sich bis zum Waldrand hochzogen. Vor einigen Jahren hatten ein paar junge Leute diesen leer stehenden Bauernhof zur Bewirtschaftung für die Selbstversorgung übernommen. Alenas Eltern halfen damals beim Bau des riesigen Regenwassertanks, der hinter dem Hof in die Erde gegraben wurde. Auch Rosa trug von Anfang an durch ihr Wissen um Pflanzenanbau und Tiere viel dazu bei, dass das Hofprojekt bis jetzt leidlich klappte. Zumindest in den Dingen, die man beeinflussen konnte. Rosa und Alena halfen seither dort täglich abwechselnd bei der Arbeit und erhielten dafür im Gegenzug Milchprodukte vom Hof, Dinkelmehl und was sie sonst selbst nicht erzeugen konnten. Es war ein glückliches Arrangement für alle Beteiligten. Sie blieben mit ihrer kleinen Gruppe jedoch die einzigen, die hier, in dieser süddeutschen Kleinstadt noch versuchten, den Feldern wenigstens ein bisschen Nahrung abzutrotzen. Die Städter blieben der Hilflosigkeit verfallen und fürchteten den Misserfolg und die Gesundheitsgefahren bei der Arbeit im Freien mehr als alles andere. Nur früh morgens stürmten sie die wenigen Lebensmittelläden, deren Regale stets fast leer blieben. Mit hängenden Köpfen kehrten sie dann in ihre Wohnungen zurück, sparten Kalorien, indem sie sich wenig bewegten, und ernährten sich weiter mehr schlecht als recht von den mickrigen Zimmertomaten und den wenigen Kartoffeln, die sie in Eimern und Fässern in den Wohn-zimmern zogen.
Rosa brauchte mit dem Fahrrad eine gute Viertelstunde, um bis zum Eberthof zu gelangen. Sie hatte es deshalb eilig, denn draußen wurde es schon wieder brütend heiß, und sie wollte heute Brot backen, wofür sie fast den ganzen Tag einplanen musste.
Nachdem sie gegangen war, räumte Alena den Tisch ab und begab sich dann in den Garten zum hauseigenen Brunnen, um Wasser für die Pflanzen zu holen. Sie empfand es als großes Glück, dass sie nicht wie alle anderen auf die städtische Wasserversorgung angewiesen war, die derzeit wieder einmal rationiert wurde. Ja, sie konnte sich reich schätzen, denn immerhin hatte sie durch den Brunnen, der sich unter dem Garten mit einem großen Wasserauffangbecken verband, noch Wasser, sogar in Trinkqualität, und die altmodische Solar-anlage auf dem Dach reichte aus, um das ganze Haus mit Strom und Wärme zu versorgen.
Es dauerte eine Weile, bis alle Pflanzen in Garten und Haus gegossen waren und Alena sich fertigmachen konnte, um zum Friedhof zu gehen. Heute, an ihrem Geburtstag hatte sie ein besonderes Bedürfnis, das Grab ihrer Eltern zu besuchen. Bevor sie ging, überprüfte sie noch einmal alle Räume des Hauses. Die von außen kaum einsehbare Hintertür zum Garten ließ sie offen, für alle Fälle. So konnte Rosa ins Haus gelangen, falls sie früher als sie zurückkam. Alena überlegte kurz, ob sie ihr Fahrrad nehmen sollte, das neben dem Ein-gang in der Garderoben-Nische stand. Sie entschied sich dagegen und griff nur nach ihrem Strohhut mit der breiten Krempe. Heute wollte sie alles etwas langsamer gestalten als sonst. Als die Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel, tastete sie nach dem Schlüssel um ihren Hals. Er war noch an seiner Kette und das beruhigte sie.
 

Vor dem Haus wendete sich Alena nach rechts und ging die asphaltierte Straße entlang, die durch die anhaltende Hitze an vielen Stellen tiefe, beulenartig aufgewölbte Risse bekommen hatte. Neben den Bodenöffnungen wuchsen zwischen Steinen und trockener Erde vereinzelt ein paar unverwüstliche Un-kräuter. Alena achtet darauf, sie nicht zu zertreten, denn manche davon hatten heilende Kräfte. Auf dem Rückweg würde sie die wenigen Pflanzen für Rosa einsammeln, die sie dann trocknete, um später aus dem Vorrat Gesundheitstees oder Salben herzustellen.
Die Rollläden an den Fenstern der Häuser, an denen Alena vorbeikam, waren fast alle geschlossen, und sie wusste, dass viele der Wohnungen bereits seit längerem leer standen. Die Bewohner waren entweder durch Hitzekollaps oder an Unterernährungskrankheiten verstorben. Alena hatte die meis-ten von ihnen gekannt, und sie empfand den Anblick ihrer Straße umso trostloser.
Kurz vor der Kreuzung wechselte sie automatisch auf die andere Seite, um den Fußgängerüberweg zu benutzen. Eine reine Gewohnheit, denn die Ampel dort blieb wie überall in der Stadt ausgeschaltet, seit das landesweite Fahrverbot für private Kraftfahrzeuge erlassen worden war.
Sie überquerte die Straße und ging weiter geradeaus, vorbei am Lebensmittelmarkt, vor dem ein großes Schild prangte, auf dem »Geschlossen« stand. Falls der Markt heute Nacht Waren bekommen hatte, so war an diesem Morgen bereits alles wieder verkauft. Die Kunden schienen es jedoch begriffen zu haben, denn Alena begegnete hier niemandem mehr. Selbst der Stadtbahnhof, den sie nur wenige Schritte später überquerte, lag einsam da, nur eine der gelben Straßenbahnen wartete. Doch soweit sie sehen konnte, saß niemand darinnen, und womöglich würde sie heute sowieso nicht fahren. Sie ging weiter durch den kleinen Stadtpark, der sich dem Bahnhof anschloss ― hier sahen sogar die paar Wüstenpflanzen er-bärmlich aus ― und bog dann links in die Innenstadt. Obwohl hier zwei oder drei Geschäfte geöffnet hatten, waren auch in dieser Straße nur wenige Menschen unterwegs. Niemand wollte derzeit Geschenkartikel oder Kleidungsstücke kaufen. Diese Dinge mussten hintenan gestellt werden, solange es nicht genug zu beißen gab. Alena beobachtete eine ältere Frau, die verzweifelt an der Tür einer Bäckerei rüttelte. Die Jalousie war heruntergelassen, so dass man nicht ins Innere des Ladens blicken konnte, genauso wenig wie bei der schräg gegenüber-liegenden Metzgerei. Es schien offensichtlich ― heute gab es weder Fleisch noch Brot. Vielleicht morgen wieder oder übermorgen oder in ein paar Tagen ― wenn man frühzeitig genug aus den Federn fand. Alena bedauerte die Frau aus tiefstem Herzen, die nicht begreifen wollte, dass die Tür verschlossen blieb. Sie sah elend mager aus. Neben ihrem Mitgefühl spürte Alena aber auch Ärger auf all die Leute, die trotz ihrer Not so lethargisch blieben. Es gab noch brach-liegende Felder, die für die Dinkelkultur genutzt werden konnten. Klar, das bedeutete viel Aufwand: Sonnensegel mussten gesetzt werden, Wassergräben wie bei den alten Ägyptern angelegt, weitere Wasserauffangbecken gegraben werden, und vieles, das früher mithilfe von Maschinen erledigt wurde, wie das Säen, Ernten und Umgraben, blieb mangels Kraftstoffen ausschließlich fleißigen Händen überlassen. Und ob all die Mühen am Ende genügend Ertrag brachten, um über den Winter zu kommen, blieb bis zuletzt ungewiss. Aber die Angst der Städter vor dem Risiko war in dieser Krisenzeit ein denkbar schlechter Grund, die Feldarbeit abzulehnen. In Bezug auf die Hitzegefahren konnte man schließlich Vor-sichtsmaßnahmen ergreifen, und im Freien arbeiteten sie sowieso hauptsächlich morgens und abends. Außerdem ge-wöhnte man sich selbst an die derzeitigen Temperaturen zwischen zweiundvierzig und sechsundvierzig Grad. Man musste es, wenn man nicht verhungern wollte. Alena seufzte. Vielleicht rafften sich die Städter ja im nächsten Frühjahr auf, die Zeiten wurden nicht besser. Aber für die Frau von eben war es dann vielleicht schon zu spät.
Alena erreichte das Ende der Straße, bog jetzt nach rechts ab und überquerte nach einigen Metern die Rathausbrücke über der Alb. Sie sah zwei Jungs, die über die Mauerbe-grenzung geklettert waren, um von dem schlammigen Wasser, das noch in dem kleinen Stadtflüsschen plätscherte, zu trinken. Am liebsten hätte sie ihnen zugerufen: »Tut das nicht ... das Wasser macht euch krank.« Aber es war schon zu spät, und selbst wenn sie den Kindern jetzt ihre eigene kleine Flasche mit gesundem Wasser gegeben hätte, wären sie danach doch wieder an das Ufer gegangen, um dort weiter zu trinken. Sie hatte es schon oft so erlebt.
Alena ging jetzt ein wenig schneller, nicht nur, um die bedauernswerten Kinder nicht mehr sehen zu müssen, sondern auch, weil sie sich nach der kleinen Bank unter der Hängebirke sehnte, die das Grab der Eltern beschattete. Vielleicht hätte sie doch lieber das Fahrrad nehmen sollen. Die Sonne brannte ihr bereits heiß auf den Kopf, ihre Wangen glühten, und der Fahrtwind wäre angenehm gewesen. Im Geist markierte sie die Abschnitte ihres Wegs. Jetzt ging sie an der Herz-Jesu-Kirche vorbei, deren bunte Glasfenster im Licht funkelten. Eine Weile später erreichte sie das alte Kasernengelände, das schon lange eine private Nutzung gefunden hatte. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Gärtnerei vor dem Friedhof, die aufgrund des allgemeinen Wasser-mangels auf anspruchslose Wüstenpflanzen umgestiegen war, um wenigstens etwas verkaufen zu können. Alena atmete auf, als sie das schmiedeeiserne Tor sah, das den Eingang zum Friedhof markierte. Es stand offen, und sie ging hinein. Der erste Weg rechts vom Hauptweg führte zum Grab ihrer Eltern. Es lag direkt vor der Friedhofsmauer und war nicht bepflanzt, sondern mit einer schwarzen Marmorplatte abgedeckt, auf der die Namen und Jahreszahlen eingraviert waren:
Selina Bruck 2060 – 2098
Roman Bruck 2058 – 2098
Seitlich des Grabes wuchs die Hängebirke, unter der eine kleine Bank stand. Dort, im Schatten der überhängenden Zweige setzte sich Alena hin. Sie nahm ihren Sonnenhut ab, strich das verschwitzte Haar zurück, und holte aus der kleinen Tasche, die sie mitgenommen hatte, ihre Flasche Wasser. Gierig trank sie daraus. Dann prostete sie in die Luft. »Hi, Mum ... Dad ... heut ist mein achtzehnter Geburtstag. Den wollten wir ganz groß feiern, wisst ihr noch?« Alenas Augen wurden feucht, aber sie unterdrückte die Tränen.
Eigentlich verstand sie bis heute noch nicht, wie der Unfall, der ihren Eltern das Leben kostete, im letzten September überhaupt passieren konnte. Sicher, es hatte orkanartig gestürmt und wie aus Kübeln geschüttet, als die beiden mit den Planen, die sie ein paar Ortschaften weiter als Ersatz für die alten Sonnensegel ergattert hatten, auf dem Rückweg waren. Aber plötzlich auftretenden Sturm hatten die beiden schon oft überstanden, und die Strecke, wo es geschah, nahm einen kerzengeraden Verlauf, und es gab dort auch noch keine Risse in der Fahrbahn. Trotzdem war der Wagen von der Straße abgekommen und die Böschung hinuntergerast, direkt auf einen Baum zu. Wie schon so oft, grübelte Alena darüber nach, ob die Eltern heute noch leben würden, wenn das landesweite Fahrverbot nur einen Tag früher in Kraft getreten wäre. Sie bemühte sich, die traurigen Bilder des Unfalls zu verdrängen. Lieber wollte sie sich so an die Eltern erinnern, wie sie diese gekannt und geliebt hatte. Hier an ihrem Grab empfand sich Alena ihnen stets näher als irgendwo sonst, und auch jetzt vermeinte sie, die Wärme der beiden neben sich zu spüren.
Ein sanfter Wind kam auf und bewegte die überhängenden Zweige der Birke. Alena schaute zwischen ihnen hindurch zum Himmel. Der Regen würde wohl noch auf sich warten lassen. Hoffentlich nicht noch Wochen, und hoffentlich war er dann nicht mit Sturm und Hagel verbunden, sodass sie nach der quälenden Hitze womöglich wieder mit Überschwem-mungen rechnen mussten. Leise erzählte sie ihren Eltern von den Sorgen durch das extreme Wetter und der allgegen-wärtigen Angst, dass auf dem Eberthof die Dinkelernte nicht rechtzeitig eingebracht werden konnte. Sie würde sowieso schon viel geringer ausfallen als erwartet.
Fast hatte Alena jetzt das tröstende Gefühl, als ob die Eltern bei ihr auf der Bank säßen und ermutigend die Arme um ihre Schultern legten, genauso wie sie das früher immer getan hatten, wenn sie vor einer Herausforderung stand.
Wie jedes Mal, wenn sie hier war, erzählte Alena dann von ihrem Alltag, berichtete auch stolz von den letzten Erfolgen ihrer Zimmergärtnerei, stellte Fragen zu den Dingen, die sie bewegten, und lauschte auf Antworten. Manchmal war sie ganz sicher, einen Tipp zu bekommen. Nicht etwa, dass irgendjemand laut geantwortet hätte, nein, das nicht. Doch eine Idee zur Lösung ihres Problems schoss auf einmal durch ihren Kopf, und Alena glaubte fest daran, dass Vater oder Mutter ihr auf geistigem Wege Lösungsmöglichkeiten vorschlugen. Manchmal vermeinte sie sogar wie aus weiter Ferne einen Hauch ihrer Stimmen zu vernehmen.
Alena erzählte auch von Rosa, die ihr so zuverlässig zur Seite stand, und von dem gemeinsamen Frühstück heute morgen. »Sie hat mir einen wunderschönen Geburtstags-kuchen gebacken, sogar mit einer Kerze darauf«, flüsterte sie lächelnd. »Ich hab viel von ihr gelernt in den letzten Monaten, und ich glaub, jetzt bin ich wirklich erwachsen ―  nicht nur weil ich heute achtzehn geworden bin.«
Alena nahm noch einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Eine Weile saß sie einfach nur da, ließ die Gedanken kommen und gehen, ohne sie in eine bestimmte Richtung hin zu verfolgen. Unter dem Schatten des Baumes empfand sie die Hitze erträglicher, die Gewöhnung trug dazu bei, und der leichte Wind, der jetzt ab und zu durch das Geäst wehte, fühlte sich fast wie eine frische Brise an. Hier könnte sie es bis heute Abend aushalten. Über ihr in der Birke hatte sich eine Krähe niedergelassen und äugte zu ihr herunter. Das Tier hatte wohl Durst, denn als sie jetzt die Wasserflasche noch einmal ansetzte, gab die Krähe einen leisen, fast wie bittend klingenden Laut von sich. Alena kramte in ihrer Tasche und beförderte eine kleine Dose zum Vorschein, in der früher einmal Bonbons waren. Sie nahm das Unterteil und goss etwas Wasser hinein. Dann stellte sie das Gefäß auf die Grabplatte. Sofort flog der Vogel von seinem Ast herunter. Gierig nahm er das Wasser auf, bedankte sich mit lautem Krächzen und flog davon.
Es ging jetzt schon auf die Mittagszeit zu. Alena tastete über die nackte Haut ihrer Arme. Sie fühlte sich brennend heiß an, und in ihrem Kopf begann es zu pochen. Besser, sie machte sich auf den Heimweg, bevor sie hier noch einen Hitzschlag bekam. Außerdem hatte sie Rosa versprochen, dass sie trotz einfachster Zutaten für den Abend ein festliches Geburtstags-menü zaubern würde. Aber etwas hielt sie zurück. Ihr schien so, als ob sie die Stimme ihres Vaters hören würde, der sie an etwas erinnern wollte. Es war ein drängendes Gefühl. Aber sie verstand ihn nicht.
»Was willst du mir sagen?«, flüsterte sie.
Die Blätter der Birke über ihr bewegten sich leicht, und ein Zweig streichelte Alenas Haar. Es fühlte sich an wie eine Liebkosung. Sie lauschte eine Weile, doch sie erhielt keine Antwort.
»Dad... was willst du mir sagen?«, flüsterte sie noch einmal, jetzt ein wenig drängender.
Wieder horchte sie, doch sie fand keine Erklärung für ihr Gefühl, erhielt keine Eingebung und kein Zeichen. Nur die Erinnerung an die Stimme des Vaters lag in der Luft. Doch Alena war überzeugt, dass er etwas von ihr wollte.
Unruhig stand sie von ihrer Bank auf und ging ein paar Schritte nach vorne, um näher am Grabstein zu sein. Die Hitze des Tages traf sie mit voller Wucht, als sie unter dem schützenden Blätterdach hervortrat. Alena hatte den Ein-druck,  als ob sie zur Bank zurückgedrängt würde, schützend, aber auch so, als ob sie hier nicht weggehen dürfte, bevor sie begriffen hatte.
»Dad ... Mum ... woran soll ich mich erinnern? Sagt es mir ... gebt mir ein Zeichen, bitte!«
Ein Schwarm Krähen flog mit krächzenden Rufen über den Friedhof hinweg in Richtung Wald.
Alena schaute ihnen nach und überlegte fieberhaft. Vorhin hatte sie einer Krähe Wasser gegeben, und jetzt flog ein ganzer Schwarm von ihnen über den Friedhof hinweg. Aber sie konnte sich nicht an irgendein Erlebnis mit ihren Eltern erinnern, das mit diesen Vögeln zu tun hatte. Sicher ein Zufall, dass ausgerechnet jetzt, wo sie um ein Zeichen gebeten hatte, die Krähen aufgetaucht waren.
Oder doch nicht?
Ihr Traum!
Ihr Traum stand damit in Verbindung. Sie zermarterte sich das Gehirn, fand aber nichts, das irgendeinen realen Bezug zu diesen Vögeln aufwies. Wenn es ein Zeichen war, dann konnte sie es nicht deuten.
»Bitte, ich verstehe dich nicht«, sagte sie leise.
Grübelnd schaute Alena auf den Namenszug ihres Vaters auf dem Grabstein. Das Unterteil des Döschens, das sie mit Wasser gefüllt hatte, stand noch daneben. Vielleicht, so über-legte sie, wollte ihr verstorbener Vater sie ja an irgendetwas erinnern, das mit Wasser zu tun hatte. Vielleicht ging es ja um den Regen, der so sehnlich erwartet wurde und nicht um die Vögel.
»Keine Sorge, ich mache immer alles dicht, wenn der Regen kommt, und bis jetzt hat unser Haus noch jeden Sturm über-standen.« Dann fiel ihr ein, dass der Brunnen in ihrem Garten damals von ihrem Vater gebaut worden war. »Willst du mir vielleicht etwas wegen dem Brunnen sagen? Ich überprüfe das Wasser regelmäßig, es ist nicht mehr viel da, aber noch absolut in Ordnung. Ich verstehe einfach nicht ...«
Alena hätte weinen mögen, weil sie jetzt, wo es wirklich wichtig schien, einfach nichts begriff. Ihr Vater schickte aus dem Jenseits eine Botschaft. Sie fühlte es in ihrem Herzen, so sehr, dass es schmerzte. Aber sie verstand ihn nicht. Alles was ihr bis jetzt durch den Sinn gegangen war, fühlte sich nicht richtig an. Ihr Vater wollte sie an etwas Bedeutungsvolles erinnern. Doch bestimmt nicht an den Brunnen und es hatte auch nichts mit Sturm, Hagel oder Regen zu tun. Irgendwie musste es mit ihr selbst zusammenhängen.
Noch einmal visualisierte Alena das Bild des Krähen-schwarms, der in Richtung Wald geflogen war. Als Kind hatte sie dort mit ihren Eltern manchmal Spaziergänge unter-nommen. Krampfhaft versuchte sie, sich an ein Vorkommnis aus der Zeit zu erinnern. Es gab eines. Sie erinnerte sich dunkel, aber noch kam sie nicht darauf, um was es dabei ging.
Während sie überlegte, wanderte ihr Blick zur Friedhofs-mauer hinter dem Baum, unter dem sie saß. Wenn man an ihr entlang und noch ein ganzes Stück weiter ging, gelangte man irgendwann zum Eberthof. Aber die Vögel waren weder von dort gekommen noch dahin geflogen.
Sie wandte den Blick von der Mauer ab und sah rechts zum Wald hoch.
»Es hat mit diesem Waldstück dort drüben zu tun, nicht wahr? Gib mir noch ein Zeichen ...«
Alena hielt fast die Luft an, so gespannt wartete sie auf einen weiteren Hinweis. Sie schaute durch das Blätterdach der Birke hindurch nach oben zu Himmel. Ein paar Wolken bildeten sich. Sie waren noch keineswegs regenschwer, eher leicht, doch sie bewegten sich schnell. Ihre Formen ver-änderten sich ständig und sie versuchte darin zu lesen. Eben entstand eine Form, die aussah wie ein Baum mit einer ausladenden Krone und einem knorrigen Stamm. Alena grübelte: Vögel, die zum nahen Wald flogen, Wolken, die sich zum Baum formten ... die Bilder erzeugten eine Resonanz in ihr und doch kam sie immer noch nicht darauf, an was sie das Ganze erinnerte. Als die Eltern noch lebten, war es wahrlich einfacher gewesen, sich mit ihnen zu verständigen.
Alena trank noch einmal einen Schluck aus ihrer Flasche und packte sie dann in die Tasche zurück. Das Döschen vom Grabstein hob sie auch auf, fügte es wieder mit seinem Deckel zusammen und steckte es ein.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie fast ein wenig ent-schuldigend, »vielleicht komme ich ja noch darauf, was ihr mir sagen wolltet.« Mit einem Seufzer trat sie zur Bank zurück, um ihren Sonnenhut aufzusetzen. Als sie sich umdrehte, um zu gehen, wurde sie von einer plötzlichen Windböe erfasst, die den Rock ihres Kleides kurz, aber kräftig aufbauschte. Ein einzelnes Blatt schaukelte langsam vor ihr auf das Grab. Alena stutzte. Es stammte nicht von der Birke. Wie kam dieses Eichenblatt hierher, wenn es doch gar keine Eichen in der Nähe gab? In dieser Gegend gab es nur eine einzige Eiche, eine sehr alte und die wuchs ganz woanders. Die Windböe hatte nur ein bis zwei Sekunden lang gedauert. Es schien eher unwahrscheinlich, dass das Blatt in der kurzen Zeit von dort bis hierher geweht war. Woher kam es? Mit einem Mal sog Alena tief den Atem ein. Sie hatte ihr Zeichen bekommen! Der Wald ... Eichen ... eine Eiche ... Sie erinnerte sich schlagartig. »Jetzt weiß ich, was du meinst, Dad ... Mum ... oh, ist das ein schönes Geburtstagsgeschenk! Ich habe deine Geschichten so geliebt, Dad, und du hast sie immer so gut erzählt. Wie konnte ich das nur vergessen. Natürlich mache ich jetzt gleich einen kleinen Umweg zum Wald. Das muss sein, und ich hab ja den Hut auf. Vielleicht ist unsere dicke Eiche noch immer da ...«
Alena fühlte sich auf einmal so leicht, und obwohl die erbarmungslose Sonne wie Feuer auf ihrer Haut brannte, machte sie sich jetzt beschwingt auf den Weg. Sie ging durch das schmiedeeiserne Friedhofstor hinaus, wandte sich dann ohne zu zögern nach links und lief die steile Straße den Berg hinauf. Eine knappe viertel Stunde später stand sie schwer atmend unter der mächtigen Eiche, welche die Fantasie ihrer Kindheit beflügelt hatte.

Weitere Leseproben

Leseprobe 1
Leseprobe 3

[Zurück zum Buch]

Manuskripte

BITTE KEINE MANUS­KRIP­TE EIN­SENDEN!
Auf unverlangt ein­ge­sandte Texte erfolgt keine Antwort.

Über LITERRA

News-Archiv

Special Info

Batmans ewiger Kampf gegen den Joker erreicht eine neue Dimension. Gezeichnet im düsteren Noir-Stil erzählt Enrico Marini in cineastischen Bildern eine Geschichte voller Action und Dramatik. BATMAN: DER DUNKLE PRINZ ist ein Muss für alle Fans des Dunklen Ritters.

LITERRA - Die Welt der Literatur Facebook-Profil
Signierte Bücher
Die neueste Rattus Libri-Ausgabe
Home | Impressum | News-Archiv | RSS-Feeds Alle RSS-Feeds | Facebook-Seite Facebook LITERRA Literaturportal
Copyright © 2007 - 2018 literra.info