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Auszug aus BAT PEOPLE
"Joshua?" Natassja stieß ihn vorsichtig an.
Keine Bewegung.
"Joshua!" Sie rüttelte an seinen Schultern.
Sein Kopf rollte kraftlos zur Seite.
"JOSHUA!!!" Sie schlang ihre Arme um seinen Körper und riss ihn an sich. Schluchzend verbarg sie ihren Kopf an seiner Schulter. Ihr Körper bebte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. "JOSHUA! JOSHUA!", rief sie immer wieder, doch ihr Bruder rührte sich nicht mehr, er war tot!
Stundenlang wiegte sie weinend seinen Leichnam, bis ihre Tränen vor Erschöpfung versiegten. Stumpf starrte sie in den Sonnenaufgang. Die starken Emotionen hatten sie so aufgerieben. Sie konnte nicht mehr. Ihr Körper schaltete auf Sparflamme, damit sie diesen Albtraum überlebte.
Sie beschloss, zu Fuß zur nächsten Stadt zu gehen, sobald die Sonne vollends aufgegangen war. Vielleicht bekam sie auf dem Weg dorthin ein Netz. Dann bestellte sie die Polizei und einen Leichenwagen zu ihrem Campingplatz. Zuvor musste sie Joshua jedoch ins Auto schleppen, das Top des Cabriolets aufsetzen und die Türen gut verschließen. Es gab Pumas, Coyoten und andere Raubtiere in der Region. Sie musste verhindern, dass sie sich über ihn hermachten.
Den Gedanken an ihre Eltern verdrängte sie. Sie fürchtete sich vor dem Telefonat mit ihnen. Sie waren eine so glückliche Familie
gewesen. Natassja, Joshua, Mom, Dad und die Zwillinge Kyle und Erin. Wie sollte die Zukunft ohne Joshua aussehen? Konnte es überhaupt ein Familienleben ohne ihn geben?
Natassja schüttelte den Kopf. Darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken.
Sie richtete sich auf und streckte ihre steifen Glieder. Die verkrampfte Haltung und die Kälte der Nacht forderten ihren Tribut. Sie spürte jeden einzelnen Muskel. Sie ging zur Corvette und öffnete die Beifahrertür. Sie würde Joshua quer über die Vordersitze legen. Dann konnte ihn auch so schnell kein neugieriger Wanderer sehen.
Sie trat an ihren Bruder heran und versuchte, ihn hochzuheben. Hilfe, war sein schlanker Körper im Tod schwer! Sie brach unter dem Gewicht zusammen und fiel hin. Joshua lag auf ihr. Sie strampelte sich frei, packte ihn unter den Achseln und schleifte ihn durch den Sand zum Auto. Trotz der kurzen Strecke musste sie immer wieder verschnaufen. Sie atmete schwer, und obwohl es so früh am Morgen kalt war, schwitzte sie wie nach einem Marathonlauf.
Vor lauter Anstrengung bemerkte sie die Besucher erst, als sie unmittelbar vor ihr standen. Natassja erschrak über ihr plötzliches Auftauchen so sehr, dass sie Joshua fallen ließ und die Ankömmlinge mit offenem Mund anstarrte.
Die beiden Männer und die Frau sagten kein Wort. Zuerst glaubte Natassja, die drei seien eine Vision und ihr überreiztes Gehirn gaukelte ihr etwas vor. Möglich war es. Denn das Trio passte so gar nicht ins Bild wandernder Naturburschen und -mädels.
Sie waren ganz in Schwarz gekleidet, mit dunklen Ponchos, die bis zu ihren Waden reichten, und schwarzen Stiefeln. Die Männer wie die Frau hatten langes schwarzes Haar. Ihre Gesichter waren bleich, als hätten sie seit Jahr und Tag kein Sonnenlicht gesehen. Sie mochten kaum älter als Natassja sein. Aber sie wirkten erwachsen und Furcht einflößend.
Der größere, kräftigere der Männer besaß harte Züge, die widerspiegelten, dass er trotz seiner jungen Jahre schon viele unerfreuliche Dinge erlebt hatte. Eine sichelförmige Narbe zeichnete seine rechte Gesichtshälfte und verlief von der Augenbraue bis zum Mundwinkel. Seine pechschwarzen Augen musterten Natassja kalt. Seine linke Hand spielte mit einer Bullenpeitsche.
Die junge Frau war auf exotische Art hübsch, mit schrägen Mandelaugen und zierlich gebaut. Ein Püppchen abgesehen von dem riesigen Dolch, der in ihrem Gürtel steckte. Zudem verrieten ihre funkelnden Bernstein-Augen, dass mit ihr nicht zu spaßen war.
Der Anblick des Dritten nahm Natassja den Atem. Noch nie hatte sie einen so attraktiven Jungen gesehen. Markante Gesichtszüge und die Statur einer antiken Götterstatue. Dazu eisblaue Augen, so klar wie ein Gletschersee. Auch er trug eine Waffe, eine Axt.
Schweigend starrten sie Natassja an.
Sie starrte zurück. So finster wie die Gruppe aussah, musste sie mit dem Schlimmsten rechnen: Raub, Vergewaltigung, Mord. Doch nach der schrecklichen Nacht konnte sie die Vorstellung nicht mehr schocken.
"Ihr könnt mein Geld haben", sagte Natassja heiser. "Und den Wagen auch. Wenn ihr einen Ersatzreifen in eurem Auto habt." Ihr schoss durch den Kopf, dass sie kein Motorengeräusch eines anderen Fahrzeugs gehört hatte. Sie hatte nicht einmal die Schritte der Fremden vernommen. Dabei herrschte in dieser Einöde totale Stille. Wie waren die Typen hierhergekommen?
"Du kannst dein Geld behalten", antwortete der Vernarbte. "Wir wollen ihn." Er deutete mit dem Knauf der Peitsche auf Joshua.
"Was?" Natassja sah ungläubig von dem Fremden auf ihren Bruder. Die unerhörte Forderung weckte sie aus ihrer Erstarrung. "Das ist ein verdammt schlechter Scherz! Mein Bruder ist erst vor ein paar Stunden an einer ominösen Krankheit gestorben. Ich habe die Hölle durchgemacht! Und ich werde den Teufel tun, ihn euch zu übergeben. Was soll das? Seid ihr perverse Gruftis? Verkauft ihr seinen Körper an die Medizin? Nur über meine Leiche!"
"Kein Problem!" Blitzschnell sprang das mandeläugige Mädchen vor, packte Natassja und hielt ihr den Dolch an die Kehle.
"Gylan! Lass sie los!", kommandierte der gut aussehende Junge die Amazone zurück. "Wir sind nicht gekommen, um zu töten."
"Das sehe ich genauso, Anwar", stimmte ihm der Vernarbte zu. "Wir können sie zu einer von uns machen. Wir brauchen frisches Blut."
"Nein, Batur", lehnte der junge Anführer den Vorschlag ab. "Keine Gewalt. Niemand wird zu irgendetwas gezwungen." Er sah Natassja eindringlich an. Gebannt starrte sie in seine Augen, die eine hypnotische Wirkung auf sie ausübten. Die Iris wechselte ihre Farbe von klarem Eisblau zu tiefdunklem Ozeanblau. Plötzlich hatte Natassja das Gefühl, als trete eine fremde Macht in ihren Körper ein und berühre ihre Seele.
Sie zitterte. Für einen Moment glaubte sie, in Anwars Mund spitz geschliffene Zähne zu sehen, und sein Poncho erschien ihr wie die zusammengefalteten Flügel eines schwarzen Engels. Da glitt die Sonne über den Horizont und blendete sie. Sie erkannte die Fremden nur noch an ihren dunklen Umrissen.
Ihr Anführer Anwar trat auf sie zu und legte seine Hand auf ihre Schulter. Ein brennender Schmerz fuhr durch Natassjas Körper. Gleißendes Licht umgab sie, und sie wurde bewusstlos.
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